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Rückblick GrossmütterForum 2019

Verbindungen schaffen und Bündnisse schmieden

Der Frauen*streik 2019 hat uns Frauen gezeigt, wie wichtig Vernetzung ist, wenn Frauen für ihre Anliegen einstehen und sie sicht- und hörbar machen wollen. Wie aber kann Solidarität gelebt werden in einer Gesellschaft von Vielfalt, Komplexität und Polarisierung und wie vernetzen wir uns? Das waren die zentralen Fragen am GrossmütterForum 2019 in Luzern.

Mit Ruth Fries und Monika Fischer riefen zwei Frauen ihre Erlebnisse am Frauenstreik in Erinnerung. Sie habe eine grosse Kraft und Solidarität gespürt, ähnliche Gefühle erfahre sie auch in der GrossmütterRevolution, sagte Ruth Fries. Es sei eine Bewegung, in der immer wieder neue Ideen geschaffen würden, und in der Frauen einander helfen, diese Ideen umzusetzen. Als Luzernerin verstand sich Monika Fischer als Gastgeberin. Auch sie war am Frauen*streik und überwältigt von den Ereignissen. Sie habe sich schon immer für die Gleichstellung der Geschlechter eingesetzt. Am Frauen*streik habe sie wahrgenommen: «Es hat sich gelohnt daran zu bleiben und sich einzusetzen für Care-Arbeit und die Würde alter Frauen. Auch mit 75 spüre ich Lebendigkeit und sehe Möglichkeiten, etwas in Bewegung zu bringen.»

Wie mit Differenzen umgehen?
«Wie schaffen Frauen eine starke Gemeinschaft, damit wir unsere Anliegen weitertragen können? Kann und soll ich mich für die Anliegen anderer Frauen engagieren, wenn meine Themen dabei nicht berücksichtigt sind? Wie bleiben wir offen, ohne unverbindlich zu sein?» Fragen, die an der Herbsttagung der GrossmütterRevolution in Luzern im Zentrum standen. Mit Andrea Maihofer, Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Basel, versuchten die Tagungsteilnehmerinnen Antworten auf diese Fragen zu finden.

Der Frauen*streik 2019 habe gezeigt, dass Frauen ausgesprochen heterogen seien, sagte Andrea Maihofer. «Es war nicht nur eine Generation, die auf die Strasse ging, sondern drei, vier.» Frauen kämen auch aus unterschiedlichen Schichten und Klassen, sie lebten sehr verschiedene Leben, seinen non-binär, lesbisch, heterosexuell, trans* oder queer. Sie sind westlich weiss, aber auch mit migrantischem Hintergrund, und zudem hätten sich auch Männer* am Streik beteiligt. «Alle diese Frauen haben unterschiedliche Erfahrungen, Ausbildungen, Berufe und Kompetenzen, und sie setzen sehr unterschiedliche Schwerpunkte und Bedeutsamkeiten.» Sie erwähnte geschlechtersensible Sprache, Rassismus, unbezahlte Arbeit, Sorgearbeit, Gleichstellung im öffentlichen Bereich, politische Teilhabe, Lohngleichheit, häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt usw. «Wir haben es mit einer grossen Vielfalt und Heterogenität zu tun. Und diese sind zentrale Elemente der gegenwärtigen patriarchalen Geschlechterordnung. Es ist sehr wichtig zu sehen, dass Rassismus und die Vorstellung einer Überlegenheit der Männer und Unterlegenheit der Frauen miteinander verbunden sind.»

Wer gehört dazu, wer nicht?
In dieser Heterogenität stellen sich für Andrea Maihofer viele Fragen: Wer gehört eigentlich zur Frauenbewegung? Wen müssen wir ernst nehmen? Gehöre ich noch dazu? Ist vor diesem Hintergrund mein Engagement noch das richtige? Und vor allem: Wie gehen wir mit Dissens um? Wie halte ich es aus, wenn Andere andere Prioritäten setzen und meinen Standpunkt kritisieren? Wo bleiben dabei meine Gefühle und Emotionen: Ärger, Wut, Unsicherheit? Wie lässt sich in dieser Vielfalt überhaupt miteinander sprechen und streiten? Wie lassen sich gemeinsame Lösungen finden?

Die Referentin verwies auf die Geschichte der Frauenbewegung, die alles andere als homogen war. „Es gab immer heftige Kontroversen und Auseinandersetzungen, die historisch wichtig waren, dann wieder schädlich und hemmend. Trotz allem Dissens gab es immer wieder auch Bündnisse.Der Frauen*streik dieses Jahr habe auf dem Konsens beruht: «Es ist genug. Die Zögerlichkeit öffentlicher Politik, gesellschaftlicher Entwicklung muss einen Schub bekommen.» Das habe letztlich zur Bündelung ganz vieler Akteur*innen, Interessen und Themen geführt. Jetzt stelle sich die Frage, wie weiter?

Probleme sind nur gemeinsam lösbar
Andrea Maihofer stellte in der Folge den Begriff «Vielfachkrise» in den Raum und verwies damit auf die gegenwärtig bestehende hoch komplexe gesellschaftliche Krisenkonstellation. Und alle Krisenphänomene stünden miteinander im engen Zusammenhang. Um diese Zusammenhänge überhaupt wahrnehmen zu können, brauche es eine breite gesellschaftliche Perspektive. Sie forderte die Anwesenden auf, sich mit dieser Perspektive auseinanderzusetzen. Denn wenn dieser umfassende Krisenzusammenhang nicht verstanden werde, ermögliche dies das «Herrschen durch Teilen» («divide et impera» oder «wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.») Das führe dazu, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Konkurrenz zueinander gerieten, statt die verschiedenen Kritikperspektiven produktiv miteinander zu verknüpfen. «Verhindert wird die Einsicht, dass Sexismus, Rassismus, soziale Ungleichheit, Verleugnung des Klimawandels usw. zusammenhängen und daher nur gemeinsam und ineinander verschränkt zu überwinden sind.»

Alles hängt zusammen
Andrea Maihofer verwies auf Virginia Wolf, die in ihren Schriften auf den konstitutiven Zusammenhang des faschistischen und patriarchalen Staates, von Sexismus und Rassismus usw. aufmerksam gemacht habe. Weiter erwähnte sie die Sexualität der 1960erjahre als das zentrale Thema der Emanzipation. «Damals wurde Sexualität als zutiefst politische Frage verstanden. Die Überwindung der vorherrschenden Sexualität war für das Erreichen einer tatsächlichen Gleichheit und Freiheit der Geschlechter unabdingbar.» Auch die aktuelle Debatte rund um «Me Too» bestätige erneut die Notwendigkeit zur Überwindung der vorherrschenden männlich dominierten Sexualität.

Die Soziologin thematisierte ein weiteres sehr aktuelles Thema: Die die fehlende Bereitschaft vieler Frauen*, für sich selbst und ihre Kinder finanziell eigenständig zu sorgen. Stattdessen werde diese Aufgabe nach wie vor weitgehend den Männern* überlassen, während dem sich Frauen* für die Betreuung der Kinder zuständig verstehen würden. «Gleichzeitig fordern sie eine gesellschaftliche Aufwertung der Care/Sorgetätigkeit. Das ist kein Widerspruch, sondern ein gegenwärtig zu lösendes Problem.»

Auch dem Recht geben, was anders ist
Noch einmal kam die Referentin auf den Dissens zu sprechen und verwies auf das bürgerliche Gleichheitsverständnis. In diesem Verständnis werde Gleichheit nur für Gleiches gewährt. Mit der Behauptung einer natürlichen Verschiedenheit von Frauen und Männern, war die Legitimation gegeben, Frauen aus Menschenrechten und den politischen Rechten auszuschliessen. Dazu führte sie bildreich die Botschaft zum Stimm- und Wahlrecht für Frauen von 1957 vor Augen.

Auch die Dialektik von «Selbstdiffamierung» und «Veranderung» gehöre zum Thema Dissens. Nämlich, die eigene Gruppe, zu der ich gehöre, als positiv zu sehen, das Andere zu negieren. Sie forderte: «Auch dem sein Recht zu geben, was anders ist und zu fühlen, dass das wahre Unrecht immer dort sitzt, wo man sich selber blind ins Recht und das Andere ins Unrecht setzt.» Sie plädierte für eine Haltung, die für die Entwicklung neuer Bündnispolitiken unabdingbar ist: Zum einen die Vielfalt, zum anderen Differenzen und Dissens auszuhalten: in sich selber und untereinander. «Nur so kann eine produktive Auseinandersetzung gelingen, die nicht nur Energie nimmt, sondern auch gibt.» Es brauche Solidarität, um das «Herrschen durch Teilen» zu unterlaufen. Andrea Maihofer forderte aber auch Verantwortung: «Es gilt, individuell und kollektiv die Verantwortung für die eigene Gesellschaft und den Zustand in der Welt zu übernehmen.»

Fragen über Fragen
Die Frauen in den Gruppen waren nach dem Referat zuerst einmal irritiert. Es hatte viele Fragen ausgelöst. Heisst das jetzt, dass ich, wenn ich anderer Meinung bin, die Klappe halten und zuhören muss? Muss ich tolerieren, was ich nicht gut finde? Nicht alle Frauen sind Schwestern. Wie kann ich lernen damit umzugehen? Gibt es Grenzen fürs Mitmachen? Gibt es eine Form der Auseinandersetzung? Andrea Maihofers Antwort auf all diese Fragen: «Es ist wichtig zu realisieren, dass wir uns in einem zusammenhängenden System befinden und uns wechselseitig nicht ausspielen sollten.» Gleichzeitig gehe es auch um Lust in der Auseinandersetzung. Am falschen Ort zu sein, koste Energie. Wichtig sei zu erkennen, dass an vielen kleinen Ecken gearbeitet werde, und dass das gut sei. Aber auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Grenzen sei zentral. Mit der Frage, warum Grenzen so bedrohlich für uns sind? «Wir müssen lernen hinzuhören und zu verstehen, intellektuell und emotional, und zwar auf beiden Seiten. Eine erste Basis zur Bündelung der Kräfte kann so geschaffen werden.»

Sich vernetzen – aber wie?
Am Nachmittag galt die Aufmerksamkeit dem Thema Vernetzung durch Kommunikation. Hier zeigte sich, dass die interne Vernetzung der Frauen der GrossmütterRevolution sehr gut funktioniert. Am besten durch Mails, zwischendurch auch durch kurze, persönliche Kontakte.

Probleme ergeben sich bei der externen Kommunikation. Kommunikationsfachfrau Michaela Schröder wollte in Erfahrung bringen, welche Netzwerke und Frauen denn für die GrossmütterRevolution erreicht werden sollen. Die Tischrunden erhielten die Aufgabe zu überlegen, mit welchen Argumenten sie eine Frau für die GrossmütterRevolution gewinnen wollen. Die Ideen waren fast grenzenlos:

  • Weil wir sicht- und hörbar werden wollen.
  • Weil wir das Bild der alten Generation aktualisieren wollen.
  • Weil ich im ländlichen Umfeld Ohnmacht spüre und etwas bewegen will.
  • Weil ich in der GrossmütterRevolution Verbündete suche und finde.
  • Weil ich hier eine Horizonterweiterung erlebe.
  • Weil wir die Anliegen der alten Frauen mit Lust und Engagement verbinden.
    Eine Tischrunde formulierte ihre Idee in einem Satz: «Weil ich der Ohnmacht des halb leeren Glases entgegenwirken will. Ich möchte das halbvolle Glas sehen und etwas oben drauf setzen.»

Zum Schluss der Tagung fasste Jessica Schnelle, Projektleiterin Generationen Bereich Soziales des Migros Kulturprozent, die Herbsttagung zusammen: Wie kann die GrossmütterRevolution Resonanz vermitteln? Antwort: Indem sie Dinge intellektuell und emotional verstehen lernt. Im Moment stelle sie in der Wirtschaftswelt einen grossen Wandel fest: Alle sollen agil sein und verschiedene Perspektiven einnehmen. Der Anspruch, ganzheitlich zu sein, sei in der Zwischenzeit selbst dort angekommen. «Ihr seid nicht allein. Der Erfolg besteht darin, hinauszugehen und Verbindungen und Bündnisse zu schmieden.»

Bernadette Kurmann

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