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Den Tod nicht wahrhaben wollen

Bei unserem damals 77-jährigen Freund war schon seit Jahren Krebs diagnostiziert worden. Er hatte die Operationen und Chemotherapien mit seinem ihm eigenen starken Willen lange tapfer ertragen, hoffnungsvoll überstanden und sich wieder voll dem Leben und seiner Arbeit zugewandt. Nach einiger Zeit wollten die Therapien nicht mehr greifen. Er wurde immer schwächer. Dies bereitete ihm sichtlich Mühe, was er aber verdrängte und überspielte. Die trotzdem weiter gemachten Chemos bereiteten ihm immer mehr schmerzhafte Nebenwirkungen.

Nach zwei leidvollen Phasen im Spital, wo er jeden Besuch ausser dem seiner Frau verweigerte, kam er austherapiert nach Hause und war auf die Betreuung seiner Frau und der Onko-Spitex angewiesen. Mit eisernem Willen ging er trotzdem täglich seine immer kleiner werdenden Runden im Haus, schrieb manchmal zäh an seinem letzten Buch. Er konnte und wollte das Nahen seines Todes nicht wahrhaben, niemand durfte mit ihm über diese offensichtliche Tatsache reden.

Seine Frau war wütend und traurig über sein Unvermögen, wirkliche Nähe zuzulassen. Jetzt schien es zu spät. Das Annehmen dieser Tatsache gab ihr die Kraft und Gelassenheit, ihn zu akzeptieren, wie er nun einmal war. Sie hat ihn bis zum Ende selbstlos betreut.

In seinen letzten beiden Monaten zuhause, bettlägerig, immer mehr abgemagert und schwächer, liess er die Besuche meines Mannes, seines liebsten Freundes, zu. Auch ich durfte ihn neben seiner Familie besuchen. Wir gingen gerne, auch um seine ihn rund um die Uhr umsorgende Frau zu entlasten. Er schien diese beinahe täglichen Besuche von uns Freunden sehr zu schätzen. Ich durfte seine schmerzenden Beine und den schwachen Rücken massieren, dabei war er zugänglich und dankbar. Nach wie vor war kein Wort über das Sterben erlaubt. Andererseits interessierte er sich immer wieder, wie es meiner betagten Mutter gehe. Beim Erzählen versuchte ich, ihr und auch mein Vertrauen ins Jenseitige anzudeuten. Ich spürte seine ängstliche Neugier. Einmal konnten wir sogar über Leben und Tod philosophieren, aber dann hat er sich gleich wieder in Panik abgewandt. Immer wieder wollte er lieber belanglose Gespräche und eine beruhigende Massage. Die Berührung ermöglichte eine spezielle, unausgesprochene Nähe. Drei Tage vor seinem Tod, er war vollgepumpt mit Morphium, erzählte er mir in einer Art Wachtraum, er hätte ein Aufgebot zum Einrücken bekommen, er werde abgeholt zum Hafen, zum Einschiffen, zur Repatriierung. Was für ein schönes unbewusstes Bild für sein nahes Sterben! Er schien in diesem Moment voll klarem Interesse, sogar einer Art Vorfreude zu sein. Am nächsten Tag war er nicht mehr ansprechbar. Seine Familie und wir Freunde sassen um sein Bett und lauschten seinem Atem. Es war eine heilige andächtige Stille. Nach einer weiteren unruhigen Nacht wurde er stark sediert und im Morgengrauen starb er.

Wir haben zu seinem Abschied im Garten seiner ehemaligen geliebten Hausgemein-schaft mit den Menschen, die einen wichtigen Teil seines Lebens und seiner Familienzeit ausmachten, ein grosses Feuer angezündet. Er hat solche Feuer immer sehr geliebt. Es war Winter, es war kalt und hat geregnet, das störte uns nicht. Die Erwachsenen haben ihm Abschiedsbriefe geschrieben, die Kinder Zeichnungen gemalt, die wir alle im Feuer verbrannt und ihm symbolisch nachgeschickt haben. Wir blieben lange ums Feuer und haben einander Erinnerungen und Erlebnisse mit ihm erzählt. Danach haben wir uns mit Glühwein und Kuchen gestärkt, das war alles stimmig und hat gut getan. Es war ein langes Sterben gewesen, wir waren auf seinen Tod innerlich vorbereitet. Nun war er erlöst und wir ein Stück weit mit ihm.

Die Familie organisierte zwei Monate später einen Anlass in der Kirche für die breitere Öffentlichkeit in Form einer Lesung aus seinem letzten Buch. Da der Verstorbene ziemlich bekannt war, kamen viele Menschen, die Kirche war voll. Nach ein paar einleitenden Worten des Pfarrers gab es jedoch keine Würdigung des Verstorbenen, wie es üblich war, nur die Lesung. Einige Leute fühlten sich dadurch wie vor den Kopf gestossen. Mir wurde klar, wie wichtig ein adäquates Abschiednehmen auch für Aussenstehende ist.

Die in der heutigen Zeit immer üblicher werdenden Bestattungen im engen Familienkreis scheinen dem Bedürfnis vieler zu widersprechen, in Gemeinschaft bewusst Abschied nehmen zu können. Damit wird der Tod gesellschaftlich noch mehr ausgeschlossen und tabuisiert, als er eh schon ist. Aber da traditionelle kirchliche Bestattungen für viele nicht mehr tauglich sind, ist es eine grosse Herausforderung, neue Formen der Abschiedsfeiern auch für eine öffentliche Gemeinschaft zu finden.

Maru

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