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Leben für die Arbeit und die Familie

Nina 2001 im grossen Garten ihrer Datscha, wo sie auch dieses Jahr Gemüse pflanzen wird.
Nina 2001 im grossen Garten ihrer Datscha, wo sie auch dieses Jahr Gemüse pflanzen wird.

Text und Fotos: Monika Fischer

Weinend weisen sie auf ihr zerstörtes Haus. Sie werden im Schubkarren gestossen oder von Soldaten aus den Trümmern getragen. Bei allen der schrecklichen Kriegsbildern berühren uns die Bilder dieser alten Frauen besonders. – Wie haben diese Frauen der GrossmütterGeneration vor dem Krieg in der Ukraine gelebt? Einigen von ihnen bin ich bei meinen Reisen und bei meiner Projektarbeit in der Ukraine begegnet. Ihnen gilt meine grösste Bewunderung, ist doch ihr Leben geprägt durch harte Arbeit im Beruf und in der Familie. Zu ihnen gehört auch Nina Tkachenko (82), der wir auf unserer ersten Reise nach Kiew vor 25 Jahren zum ersten Mal begegnet sind.

(Fortsetzung)

In der Einzimmerwohnung ihrer Tochter Iryna und ihres Schweizer Schwiegersohnes hiess sie uns herzlich willkommen, nachdem uns ihr Mann Alexander vom Flughafen Borispol abgeholt hatte. Der Tisch war reich gedeckt mit vielen köstlichen Vorspeisen. Beim zweiten Toast drückte ihr Gesicht zu den ukrainischen Wörtern ihre Freude über unsere Anwesenheit aus. Sie hatte den Kühlschrank für unseren Aufenthalt gefüllt mit Gemüse, vorgekochten Holupzi und anderen Gerichten. Frisches Obst lag in einer Schale auf dem Tisch. Wir kannten damals weder die kyrillischen Schriftzeichen noch die ukrainische oder russische Sprache. Alexander sprach etwas Deutsch, Nina ganz wenig Englisch. Wir verständigten uns mit Zeichen und über ein altes Wörterbuch.

Nonverbale Kommunikation
In Sorge, wir könnten uns in der Grossstadt nicht zurechtfinden, wollte uns Nina unbedingt auf den Erkundigungen durch die Stadt begleiten. Sie zeigte uns das «Goldene Tor» und besuchte mit uns die Wladimir-Kathedrale, wo ich auf ihr Geheiss vor dem Eintritt das Kopftuch knüpfte und einen bereitliegenden Rock umband. Sie führte uns zu den verschiedenen Kirchen, Klöstern, zu alten Vierteln, auf den Markt und zu vielen weiteren Sehenswürdigkeiten und Denkmälern, deren Bedeutung wir mit Hilfe unseres deutschen Reiseführers verstanden. Stundenlang waren wir ununterbrochen zu Fuss unterwegs. Als wir eine Kaffeepause machen wollten, drängte sie uns mit einem «Njet, njet» zum Weitergehen. Obwohl wir ihr versicherten, dass wir mit dem Einkauf von Brot und Milch im nahen Laden zurechtkämen, wehrte sie ab und lief mit uns eine halbe Stunde zu einem Geschäft, wo das Brot günstiger war. Vor der Rückreise schenkte sie mir die ukrainischen Keramikschüsseln, die ich in einem Schaufenster bewundert hatte. Ich war berührt von ihrer Aufmerksamkeit und der Verständigung ohne Worte.

Selbstversorgung mit Obst und Gemüse
Fasziniert vom Land mit seiner reichen Kultur und der leid- und wechselvollen Geschichte besuchten wir die Ukraine immer wieder. Neben Ninas Bruder lernten wir auch die zweite Tochter Olena mit ihrer Familie kennen. Mit der Metro fuhren wir über den Dnepr in den Stadtteil mit den neuen Wohnquartieren, wo uns Nina und Alexander in ihrer Dreizimmerwohnung zum Essen eingeladen hatten. Ein Andermal besuchten wir sie auf ihrer Datscha. Nina führte uns über das grosse Grundstück mit verschiedenen Obstbäumen, wo sie Kartoffeln, Mais und alle nur möglichen Gemüse anbaute. Im grossen Vorratskeller zeigte sie mit Stolz auf die unzähligen Gläser mit eingemachtem Gemüse und die Flaschen mit Kompott (Obstsaft). Diese waren nicht etwa mit einem Zapfen, sondern mit dem zurechtgeschnittenen Rest eines Maiskolbens verschlossen. Nina ist eine Meisterin im Wiederverwerten. Unvergesslich ist mir der Nachmittag, als sie mir mit ihren geschickten Händen zeigte, wie sie die mit Sauerkirschen gefüllten Vareniki zubereitet. Sie bestand darauf, dass wir diese als Proviant in die Schweiz mitnehmen.

Familiäre Verbundenheit
Nina und Alexander besuchten uns auch mehrmals in der Schweiz. Am Dankesfest für Freunde und Verwandte nach unserer zivilen Hochzeit übergab sie uns mit den guten Wünschen verschiedener Heiligen ein Brot, bedeckt von einem mit Kreuzstichen bestickten Tuch. Gemäss ukrainischer Tradition machen das die Eltern für ihre Kinder, sagte sie. Es bringe Glück, wenn das Brot von den Hochzeitsgästen gegessen werde, solange es weich ist.
Unsere Kontakte sind nie abgebrochen. Umso mehr sorgen wir uns seit Kriegsausbruch um ihr Wohlergehen. Über ihre Tochter Iryna haben wir gehört, dass sie sich auf ihrer Datscha relativ sicher fühlen. Seit drei Wochen gebe es weniger Luftalarm.
Mir wurde bewusst, dass ich mich Nina vertraut fühle, jedoch wenig über ihr Leben weiss. Sie freute sich über mein Interesse und beantwortete über ihre Tochter Iryna meine Fragen.

Not im Zweiten Weltkrieg
Geboren am 20. Oktober 1939, ist Nina als jüngstes Kind mit zwei Brüdern in Tscherkassy in der Zentralukraine in einem kleinen, aus altem Material gebauten Haus mit zwei Zimmern aufgewachsen. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war sie zwei Jahre alt. Als Hitler am 22. Juni 1941 einen Teil der Ukraine besetzte, vergrub ihre Mutter Maria die Kartoffeln, legte Stroh über das Gemüse im Keller, packte die Jüngste in einen Leiterwagen, nahm die Ziege mit lief mit den beiden kleinen Buben 25 km, bis sie in einem Dorf bei Bekannten unterkam. Als sie vier Jahre später nach Kriegsende zurückkehrte, war ihr Haus teilweise zerstört. Die deutsche Besatzung hatte es als Pferdeunterstand benutzt. Zu ihrer Freude fand Maria im Keller das Holzfass mit den sauren Gurken, die sie auf dem Markt verkaufen konnte sowie die im Feld vergrabenen Kartoffeln. Vom Vater hatte die Familie fünf Jahre nichts gehört. Nina war sechs Jahre alt, als er von der Zwangsarbeit in Deutschland zurückkehrte.
In den Jahren 1947/48 litt die Familie unter der Nachkriegs-Hungernot. «Es war hart, sehr sehr hart», las Iryna die Antwort ihrer Mutter und fuhr fort: «Wir haben überlebt, weil unsere Erde uns ernährt hat, konnten wir doch auf dem eigenen rund zehn Aaren grossen Land Kartoffeln, Mais, Kürbis und Gemüse anpflanzen und die Überschüsse der Ernte auf dem Markt verkaufen.»

Tüchtige Studentin
Nach seiner Heimkehr arbeitete der Vater wie vor dem Krieg in einer Zigarrenfabrik, Maria auf der Kolchose. Ihre Mutter sei eine sehr weise Frau gewesen, die darunter gelitten hatte, dass sie nur drei Schulklassen besuchen konnte, sagte Nina. Deshalb setzte sie alles daran, dass die Kinder studieren konnten. Nina war eine sehr gute Schülerin und schloss ihr letztes Schuljahr mit besten Noten und einer Auszeichnung ab. Besonders stark war sie in Mathe, Chemie und russischer Literatur. Als sie mit 17 die Aufnahmeprüfung an der Uni nicht schaffte, arbeitete sie ein Jahr in einem technischen Büro einer Architekturabteilung. Beim dritten Anlauf wurde sie 1958 für das Studium an der Hochschule für Lebensmittelindustrie aufgenommen. Sie erzählt von ihrem Vater, der sie nach Kiew gebracht und mit den Worten verabschiedet hatte: «Bis hierhin kann ich dich bringen. Ab jetzt beginnt dein selbständiges Leben.» Als sehr gute Studentin bekam sie Stipendien. Fast fünf Jahre wohnte sie im Studentenheim zusammen mit 10 bis 12 Frauen in einem Raum mit gemeinsamer Küche.

Familien- und Berufsarbeit
«1960 habe ich meine Liebe, Alexander, im Studentenheim getroffen. Auch er war ein vielfach ausgezeichneter Student, der verantwortlich war für kulturelle Events und Aktivitäten in der Freizeit. Wir haben gemeinsam in einem Chor gesungen, die Liebe zum Singen führte uns zusammen. Im Mai 1963 feierten wir unsere Studentenhochzeit an einem malerischen Ort im Wald.» Nach der schwierigen Geburt der ersten Tochter 1964 konnten die jungen Eltern ein Jahr später dank ihren Stipendien ein Zimmer bei einer jüdischen Familie mieten. Nach einem Jahr unbezahltem Mutterschaftsurlaub schloss Nina ihr Studium als Lebensmittel-Ingenieurin ab.
Die Menschen konnten in der Sowjetzeit ihren Arbeitsort nicht selber wählen Ein Jahr später wurde ihr Mann Alexander in einer Zuckerfabrik als Hauptingenieur für die Energieversorgung bestimmt. Die junge Familie zog nach Saliwonki, wo Nina selber für eine passende Arbeit schauen musste. Schon zwei Jahr später wurde Alexander zum Vizedirektor eines der grössten Zuckerkombinate der Ukraine, einem wissenschaftlichen Zentrum für neue Technologien, bestimmt. Zehn Jahre lebte die Familie darauf in Jahotin in der zugeteilten Wohnung. Schon bald wurde Nina eingeladen, im experimentellen wissenschaftlichen Bereich als Projektleiterin mitzuarbeiten. «Es war ideal für mich, dauerte mein Arbeitsweg doch nur 25 Fussminuten, die Tochter war im subventionierten Kindergarten nahe der Wohnung gut aufgehoben. Die verantwortungsvolle Arbeit hat mir sehr gefallen. Ich wurde geschätzt, war gleichzeitig aber gestresst, da ich keine Fehler machen durfte.» Nach der wiederum schwierigen Geburt der zweiten Tochter 1971 hatte sie wieder ein Jahr unbezahlten Mutterschaftsurlaub.
Die Jahre in Jahotin waren vom Unfall des Schwiegervaters in Poltawa überschattet, der danach querschnittgelähmt auf den Rollstuhl angewiesen war. Da es ihm zunehmend schlechter ging und seine minimale Invalidenrente zusammen mit der Kolchosearbeit seiner Frau nicht zum Leben reichten, sparten Nina und Alexander wo sie konnten und bauten für die Eltern am gleichen Ort ein einfaches Haus aus gebrauchtem Material mit sechs Aaren Umschwung zur Selbstversorgung. Es wurde später zu ihrer Datscha.

Als Frau doppelt belastet
Als Alexander sechs Jahre später an eine neue Arbeitsstelle im Ministerium in Kiew für Kooperativen aller Lebensmittelunternehmen der Ukraine berufen wurde, fuhr er ein Jahr mit dem Zug dahin, bis die Familie eine Wohnung bekam. In dieser 42m2 grossen Wohnung lebte zeitweise die ganze erweiterte Familie: neben den Eltern nach deren Heirat auch die jüngere Tochter mit Mann und Kind sowie Iryna, die damals bestens ausgebildet an der Universität unterrichtete.
Bei der Suche nach einer Arbeitsstelle, die ihren Qualifikationen als Lebensmitteltechnologin entsprach, wurde Nina von ihren ehemaligen Studienkollegen unterstützt. Die Arbeit am Institut für verschiedene Projekte in der Lebensmittelindustrie gefiel ihr: «Obwohl ich für einen Arbeitsweg 50 Minuten mit der Metro fahren musste, war ich glücklich und zufrieden.» Wie alle anderen Frauen kaufte sie auf den Nachhauseweg ein, kochte das Nachtessen und besorgte am Abend den Haushalt. Da die Schwiegermutter inzwischen gestorben war, fuhr die Familie zudem sechs Jahre lang an den Wochenenden nach Jahotin, um dort für den Schwiegervater zu sorgen und den Garten zu bepflanzen. Bis heute sind die Frauen in der nach wie vor patriarchalen Gesellschaft der Ukraine durch Arbeit und Familie doppelt belastet. Gemäss Tochter Iryna erlebte sie trotz allen den Belastungen eine glückliche Kindheit mit jährlich zwei bis drei Wochen Ferien in einem Sanatorium auf der Krim oder einem Erholungsheim, das zum Kombinat der Arbeit des Vaters gehörte.

Alles für die Familie
Neben den Belastungen in der Familie trug Nina auch viele Enttäuschungen mit, die Alexander während der Sowjetzeit erleben musste. Da die Eltern trotz Verbot ihre Töchter taufen liessen, wurde er bei der Partei verpfiffen und trotz seiner ausgezeichneten Leistungen nicht mehr befördert. Als er seine Genossen vor dem Standort Tschernobyl für das geplante Atomkraftwerk nahe dem Dnepr warnte, wurde er ausgelacht mit dem Hinweis, der Befehl aus Moskau müsse befolgt werden. Nach dem Reaktorunfall im Mai 1986 wurde er ohne genügenden Schutz in einem Umkreis von fünf Kilometern als Liquidator eingesetzt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde er gezwungen, in Pension zu gehen. Er war fortan für den 1992 geborenen ersten Enkel Anton da, während Nina bis ins Jahr 2000 weiterarbeitete. Seither betreuten sie gemeinsam den im gleichen Jahr geborenen zweiten Enkel Iwan, ab 2008 auch die Enkelin Mascha, damit ihre Mutter arbeiten konnte. Nina betonte: «Ich und Alexander haben unsere Enkelkinder mit viel Liebe und grosser Freude aufgezogen. Sie sind unser grosses Glück im Leben.»
Erst jetzt kann ich verstehen, warum Nina bei unserem ersten Besuch mit uns auswärts keinen Kaffee trinken und nur das günstigste Brot kaufen wollte. Bei ihrem herzlichen Lachen war nie etwas spürbar von ihrem entbehrungsreichen Leben mit den vielen Enttäuschungen, im Gegenteil: Sie freute sich über unser Interesse an ihrem Land und erzählte begeistert von ihren Töchtern und den Enkelkindern.
Trotz regelmässigem Bombenalarm und den Bitten der Töchter möchte sie mit Alexander die Ukraine nicht verlassen, zu viel haben die beiden schon durchgestanden. Sorgen macht sie sich jedoch um die Enkelkinder und deren Zukunft. So wird Nina zusammen mit Alexander trotz Altersbeschwerden in diesem Krieg weiterhin das Land bebauen, das sie seit Jahrzehnten ernährt hat.

Nina und Alexander bei unserem letzten Besuch in Kiew im März 2018: Sie haben schon viel gemeinsam durchgestanden und sorgen sich jetzt vor allem um ihre Enkelkinder.
Nina und Alexander bei unserem letzten Besuch in Kiew im März 2018: Sie haben schon viel gemeinsam durchgestanden und sorgen sich jetzt vor allem um ihre Enkelkinder.

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