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​Über das Unsagbare sprechen

Barbara Bischoff Frei

Momentan sind viele in Gedanken bei dem unsäglichen Krieg in der Ukraine. Wir sehen und hören schreckliche Geschichten, und vor allem beschäftigen uns die vielen Flüchtlinge: Alte, Mütter und Kinder. Wir alten Schweizerinnen hatten das Glück, nie einen Krieg erlebt zu haben. Wir können uns aber an die Flüchtlinge aus Ungarn 1956 und aus der Tschechoslowakei 1968 erinnern. Bei vielen dieser Menschen kommt durch den jetzigen Krieg das damals Erlebte wieder hoch. So auch bei meiner Bekannten Martha, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt hat.

(Fortsetzung)

Martha wurde 1936 in Deutschland geboren. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und drei Grosskinder. Über die Jahre des Zweiten Weltkriegs und deren Folgen hat sie kaum gesprochen. Ihre Tochter erinnert sich an Sprüche wie: «Du hast ja keine Ahnung, was Hunger ist.» Den Zusammenhang verstand sie als Kind jedoch nicht.
Seit einigen Jahren leidet Martha an einer Demenz. Ihr Gedächtnis wird zunehmend schlechter, sie spricht kaum noch und ist teilweise desorientiert. Nun sind die Bilder des Krieges in der Ukraine täglich im Fernsehen und in den Zeitungen präsent. Durch diese Informationen wurden bei Martha Erinnerungen wach, die anscheinend über Jahrzehnte ausgelöscht schienen.

Martha begann zu erzählen:
«Ich habe mit meiner Mutter und Grossmutter sehr viele Nächte im Bunker verbracht. Manchmal sahen wir vom Dorf aus, wie die Bomben auf die Grossstadt fielen. Das Essen wurde knapp, und ich konnte nicht mehr in die Schule gehen. Ich hatte dann das Glück, dass im Spital ein Schulraum für die Kinder der Angestellten eingerichtet wurde, wo ich auch hingehen durfte. Ein bis zwei Schuljahre habe ich aber verfehlt.
Meine Mutter war meistens traurig. Ich verstand das ganze Geschehen nicht, hatte aber Angst zu fragen, denn ich wollte meine Mutter nicht noch mit meinen Fragen belasten.
Als wir dann flüchten mussten, kamen wir nach Bayern. Die wollten aber keine Flüchtlinge und gaben uns das zu spüren. Ich verstand das nicht, wir waren ja auch Deutsche. Später konnten wir dann weiter reisen ins Badische, wo wir eine neue Heimat fanden.
Nach dem Krieg kam der grosse Hunger. Wir hatten fast nichts mehr zu essen. Meine Mutter schickte mich mit dem Korb oder dem Leiterwägeli los, um Essen zu suchen. Sie dachte, dass die Bauern einem Kind eher etwas abgeben würden als einer Frau.
Es war schrecklich, dass ich als achtjähriges Mädchen betteln gehen musste und oft zurückgewiesen wurde. Der Hunger hielt noch bis 1948 an.
Mit der Besetzung hatten wir im Badischen Glück, das waren die Franzosen. Die waren sehr anständig zur Bevölkerung. Ganz anders war es unter den Russen und den Amerikanern.
Den Krieg habe ich nicht verstanden. Was konnte ich denn dafür?»

Ich fragte Martha, wo denn ihr Vater während dieser Zeit gewesen sei. Da war sie einen Moment ruhig und sagte dann mit einer abweisenden Handbewegung: «Er war ein Spätheimkehrer.»
Wir wissen ja nun, dass viele Soldaten traumatisiert aus dem Krieg zurückkehrten, was für die Familie eine zusätzliche, schwere Belastung war.
Darauf sagte sie lange nichts mehr, und plötzlich wiederholte sie das soeben Erzählte nochmals.

Warum ich das schreibe?
Bei den heutigen Bildern der flüchtenden denke ich an die vielen traumatisierten Menschen des Zweiten Weltkrieges. Dieser Krieg ist nun über 70 Jahre vorbei, und die betroffenen Menschen haben immer noch mit dem Erlebten zu kämpfen.
Seither erlebte die Welt unzählige weitere Kriege. Manche berührten mich nicht direkt, weil sie auf einem anderen Kontinent waren und ich die Hintergründe nicht verstand oder mich nicht damit befassen wollte.
Mich macht dieses Kriegsgeschehen ohnmächtig.

Was können wir tun für eine bessere Welt?
Kriege hinterlassen immer unzählige Opfer, vor allem sind die Kinder die Leidtragenden. Es ist egal, ob sie aus dem Land der Aggressoren sind oder nicht.
Ich habe für mich die Strategie gewählt, über das Geschehene und das aktuelle Geschehen zu sprechen. Es darf nicht vergessen werden! Vielleicht lernen wir irgendwann etwas daraus.

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