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Eine 4. Säule zur Sozialen Sicherheit?

Monika Fischer im Gespräch mit Monika Stocker

Monika Stocker hat die erste Frauensession initiiert und mitgemacht. 30 Jahre später wurde sie erneut als Mitglied der 2. Frauensession gewählt und hat in der Kommission für Anerkennung der Freiwilligen- und Care-Arbeit mitgearbeitet. Seit mehr als 50 Jahren plädiert sie dafür, dass nicht nur Lohnarbeit, sondern auch Care-Arbeit und Freiwilligeneinsätze zur Sozialen Sicherheit beitragen. Dazu betont sie im Gespräch: «Man weiss, nicht erst seit Corona, dass die Care-Arbeit Grundvoraussetzung für das Wirtschaften überhaupt ist, und man kennt fast alle Berechnungen, die aufzeigen: Durch die alleinige Fokussierung auf die bezahlte Arbeit sind in der Regel Frauen diskriminiert und bleiben es.»

Monika Fischer: Beginnt eine bessere Anerkennung der freiwilligen Care-Arbeit nicht damit, dass wir diese auch als Arbeit benennen? Es gab eine Zeit, in der sich viele Frauen dafür stark machten. Heute stelle ich fest, dass allgemein wieder einzig die Lohnarbeit als Arbeit gilt und Personen, die Familienarbeit leisten, sagen: «Ich arbeite nicht, ich bin zuhause.»

Monika Stocker: Keine Wirtschaft, keine Gesellschaft kann mit Lohnarbeit allein leben. Das ist allgemeines Erfahrungswissen, das aber im kapitalistischen System und seinem Pendant, dem Sozialismus, enggeführt wurde auf das Thema: Nur Lohnarbeit ist Arbeit, also bezahlt, also etwas wert. Damit wurden die Frauen schon von Karl Marx zum «Nebenwiderspruch», zu dem er die Hausarbeit erklärte. Schon damals versprach er, das würde man später lösen. Dieses «Später» ist nie «jetzt», leider bis heute nicht.

Ihr habt in der zweiten vorberatenden Kommissionssitzung verschiedene Anerkennungsgrundsätze der unbezahlten Arbeit diskutiert. Wie verliefen die Diskussionen der 24 Frauen aus verschiedenen Parteien?

Wir hatten zuerst Einführungsreferate von jungen feministischen Ökonominnen, von Statistikerinnen, die das Thema Freiwilligenarbeit, Care-Arbeit erforscht und dokumentiert haben, und auch von politisch engagierten bekannten Frauen wie Ina Praetorius. Es wurde deutlich: Man weiss fast alles, zum Beispiel:

  • dass heute mehr Stunden im Nichtlohnarbeitsbereich geleistet werden als in Lohnarbeitsbereich,
  • man weiss nicht erst seit Corona, dass die Care-Arbeit Grundvoraussetzung für das Wirtschaften überhaupt ist, und
  • man kennt fast alle Berechnungen, die aufzeigen, dass durch die alleinige Fokussierung auf die bezahlte Arbeit, in der Regel Frauen diskriminiert sind und bleiben.

Mich erstaunte, dass für viele gut qualifizierte jüngere Frauen diese Erkenntnisse überraschend waren. Mich freute aber auch, dass rasch eine engagierte und lebendige Diskussion entstand, die zwischen Empörung, Ideen und Kreativität und auch Entmutigung hin und her pendelten. Eine Situation, wie ich sie ja seit Jahrzehnten kenne.

Gemeinsam wurden in der Kommission drei Beschlüsse gefasst. Dazu gehört der Beitritt der Schweiz zu WEGo (Wellbeing Economy Governments Partnership). Was ist genau darunter zu verstehen? Warum könnte diese Vision für unser Land richtungsweisend sein?

Wenn wir jetzt im 21. Jahrhundert global denken, müssen wir erkennen: Sowohl der Kapitalismus wie der traditionelle Sozialismus sind keine zukunftsfähigen Parameter mehr. Wir müssen umdenken und das heisst auch, den Wachstumswahn begraben. Es darf nicht immer mehr Ratings geben, die das Wachstum ökonomisch messen und erklären, das führe zu Sicherheit und Wohlstand für alle. Deshalb entstand in einigen Ländern der Versuch, nicht mehr das Wachstum, sondern das Wohlbefinden (wellbeing) zu messen. Dazu wurden neue Parameter entwickelt, die Sorge tragen zu den Ressourcen und den sozialen Beziehungen. Dieser Vereinigung beizutreten heisst, sich Rechenschaft geben über die Formen des Wirtschaftens und dafür Verantwortung zu übernehmen. Unsere Kommission empfahl, die Schweiz sei dieser Institution wellbeingeconomy.org beizutreten.

Als zweites wurde in der Kommission beschlossen, dass die von der Frauensession 91 vorbereitete Anerkennung der Erziehungsarbeit, wie sie in der 10. AHV-Revision erreicht wurde, auf- und ausgebaut werden soll. Was wurde konkret gefordert?

Das Postulat der Kommission lautete: 1. Säule - Betreuungsgutschriften mit Anerkennung der Care-Arbeit (Haus- und Familienarbeit) ausdehnen. Vereinfachte, niederschwellige Gesuchstellung mit Finanzierung durch die MWST anstreben. Marginale kostendeckende Erhöhung der MWST zur Sicherung der Rente: alle bezahlen, alle profitieren.

Schliesslich forderte eure Kommission eine 4. Säule, in der die Care-Stunden angespart, durch anerkannte Nonprofit Organisationen und durch Selbstangabe erfasst und wie bei der Steuererklärung registriert und mittelfristig zu einem Einkommen der anderen Art umgerechnet werden. Warum ist dir dieses Anliegen so wichtig?

Das Postulat lautete: 4. Säule mit Mitteln aus der Allgemeinheit zur finanziellen Anerkennung der institutionalisierten Freiwilligenarbeit schaffen. Umsetzung über akkreditierte Organisationen (NGO). Dieses Postulat hat zwei wichtige Seiten: Anerkennung der institutionalisierten Freiwilligenarbeit und den Begriff der 4. Säule.
Wir kennen in der Schweiz die institutionalisierte Freiwilligenarbeit, z.B. Rotes Kreuz, Pro Senectute, Kultur- und Sportvereine usw. Da beauftragt eine Organisation Freiwillige. Diese sollten verpflichtet werden, die geleisteten Stunden zu dokumentieren und zu «versichern», d.h. eine minimale Soziale Leistung für die nach wie vor unbezahlte Arbeit einzubezahlen. Das würde die Soziale Sicherheit stärken und die Freiwilligenarbeit aufwerten.
Die in sozialen Bewegungen und familiären Strukturen geleistete Arbeit sollte wie beim Steuersystem durch Selbsteinschätzung erfasst werden. So käme man mittelfristig zu einer Ausweitung und Anerkennung des Begriffs Arbeit und zur Stärkung der Vorsorge. Diese Überlegungen stellten wir aus strategischen Gründen zurück hinter den institutionalisierten Teil.

Warum wurde das Anliegen der 4. Säule zurückgestellt?

Wir kennen in der Schweiz die 3 Säulen AHV als Grundsicherung, 2. Säule als berufliche Vorsorge und 3. Säule als persönliche Ersparnisse. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass für Frauen und Menschen, die viel Care-Arbeit leisten, die berufliche Säule wenig oder gar nichts bringt und die oft zu Teilzeitarbeit genötigten Mütter und auch Väter und die Niedriglohnberufe kaum je in die 3. Säule einzahlen können. So bleibt der Gap der Sicherheit im Alter bestehen. Wenn nun aber die Care-Arbeit mindestens als anerkannte Form der wichtigen gesellschaftlichen Arbeit zu einer 4. Säule wird, dann kann Ausgleich geschaffen werden.
In der Kommission wurden die Ideen begrüsst und ausgearbeitet. Im Plenum wurde dann aber durch einen Einzelantrag, der unserer Idee in der Abstimmung gegenübergestellt wurde, die Idee der 4. Säule überstimmt. Einmal mehr siegte der traditionelle Ansatz: Ausbau der Lohnarbeit, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, guter Lohn und dann gibt es eine gute Rente, das reicht, also der klassisch gewerkschaftliche Ansatz.

Du schreibst, dass Kenia im Parlament beschlossen hat, neu die Arbeit der Mütter und Grossmütter für eine Altersrente einzurechnen? Warum, und wie haben sie dies konkret geschafft?

Wir haben diese Meldung aus dem Internet bekommen und können natürlich die Details nicht genau eruieren. Uns dünkte aber entscheidend zu wissen, dass Länder, die schon lange die Erfahrung machen, dass das kapitalistische Wirtschaften zu Korruption und Ausbeutung und zu noch mehr Armut führt, nach Wegen suchen, die traditionelle Arbeit von Müttern und alten Frauen zu «sichern», denn auf die ist mehr Verlass als auf alle grossmäuligen politischen Versprechen. Diese Erfahrung machen die Projekte in der Entwicklungspartnerschaft schon lange: auf die Zusammenarbeit mit den Frauen ist Verlass, dass das Geld «richtig» ankommt und auch sozial eingesetzt wird.

Ihr wart eine von acht Kommission an der Frauensession und habt euch landesweit für eine bessere Anerkennung der Freiwilligen- und Care-Arbeit stark gemacht. Welche Wirkung hat euer Engagement? Wer wird sich weiterhin wie dafür einsetzen?

Wie alle Postulate der Frauensession wurden sie den jetzt amtierenden Parlamentarierinnen übergeben. Diese verpflichteten sich, sich für die Anliegen stark zu machen, insbesondere die beiden sehr engagierten Präsidentinnen der Session, Ständerätin Maja Graf und Nationalrätin Kathrin Bertschy und natürlich die Präsidentinnen der Kommissionen, bei uns Christa Markwalder. Ob und wie das wirklich geschehen wird, müssen wir sehen und überprüfen.

Du plädierst in der Sozialpolitik seit mehr als 50 Jahren dafür, dass nicht nur Lohnarbeit, sondern auch Care-Arbeit und Freiwilligeneinsätze zur Sozialen Sicherheit beitragen. Bist du müde geworden und überlässt das Engagement für dieses Anliegen anderen?

Ich überlasse die weitere Arbeit an diesem Thema der aktuellen Politikerinnen-Generation und allen engagierten Frauen und Männern in sozialen Organisationen, aber auch in kulturellen und sportlichen Vereinen. Wenn wir das Miliz-System wirklich behalten wollen, müssen sie sich alle etwas einfallen lassen zum Thema Anerkennung, was in unserem System auch heisst: nachdenken über Geld, Lohn und Soziale Sicherheit.
Die anstehenden Debatten zu unseren Alterssicherungssystemen werden zeigen, dass Geld zwar wichtig ist, aber dass es noch etwas ganz anderes braucht als Geld: Fürsorge, Zuwendung, Zeit, Care. Und spätestens da müsste man sich auf das andere Standbein der Sozialen Sicherheit besinnen und ihm die zukünftige nachhaltige Position verschaffen. Denn eine Sicherheit auf einem Bein ist immer fragil und meist auch ungerecht.

Herzlichen Dank, Monika.


Monika Stocker, Zürich
Monika Stocker, Zürich

Monika Stocker ist dipl. Sozialarbeiterin, dipl. Erwachsenenbildnerin und hat einen Master in Angewandter Ethik sowie einen Fähigkeitsausweis Fachjournalismus des MAZ. Sie arbeitete in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit, dozierte an verschiedenen Ausbildungsstätten und war von 1987-91 Nationalrätin und von 1994 - 2008 Stadträtin von Zürich, wobei sie das Sozialdepartement leitete. Die Autorin mehrerer Bücher ist verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und von zwei Enkelkindern und engagierte sich von 2010 - 2020 bei der GrossmütterRevolution.

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