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Auf der Suche nach dem Eigenen

Anhand von Bildern freut sich Angelica Ferroni Heggli rückblickend über ihre Kindheit, in der sie im konservativen Umfeld auch viel Raum und Freiheit hatte.
Anhand von Bildern freut sich Angelica Ferroni Heggli rückblickend über ihre Kindheit, in der sie im konservativen Umfeld auch viel Raum und Freiheit hatte.

Text und Foto: Monika Fischer


«Es fällt mir schwer, über mich zu sprechen...», erklärt Angelica Ferroni (70) in reinem Bündnerdialekt. «... vermutlich eine Folge meiner Sozialisation, in der das Dienen und Gehorchen im Zentrum standen.» Deshalb staunte sie bei einem Anlass der GrossmütterRevolution, wie die Frauen mutig hinstanden und für sich sprachen. Diese Aussagen aus dem Mund der erfolgreichen Führungsfrau überraschen. Nach der Familienphase und einem Studium hat die Physiotherapeutin als Rektorin einer Schule für Gesundheitsberufe wesentliche Veränderungen eingeleitet, das Forum Luzern60plus präsidiert und die genossenschaftliche Nachbarschaftshilfe «Zeitgut» aufgebaut. Die wertvollsten persönlichen Erfahrungen macht sie heute bei der Begleitung ihrer Enkel.

(Fortsetzung)

Eine wunderbare Kindheit
Aufgewachsen ist sie im deutschsprachigen Dorf Bonaduz in einer Grossfamilie. Dazu gehörten neben einer Schwester und vier Brüdern die unverheirateten Geschwister ihres aus den Abruzzen stammenden Vaters, die als Halbwaisen zeitlebens zusammenblieben. «Ich hatte drei Mütter und zwei Väter. Es war oft sehr lustig mit all den vielen Kindern im Dorf. Wir hatten sehr viel Raum und Freiheit, der ganze Wald der Region gehörte uns», erzählt sie lachend. Gleichzeitig war ihr Umfeld streng katholisch und stockkonservativ mit einer klaren Rollenteilung zwischen den Geschlechtern. «Ich wuchs als Mädchen mit dem di-da-dü-Dreiklang (dienen-danken-dürfen) auf, das Individuum hatte wenig Bedeutung, nur die Gemeinschaft zählte.» Und doch schwärmt sie von den Ferien im ehemaligen Hotel Tenigerbad, das ihre beiden Tanten in den Jahren 1953 bis 1965 als Sommerferienheim für jeweils rund 200 Kinder aus dem Ausland führten. «Dort hatten wir neben unseren Ämtchen sehr viel Freiheit und lebten inmitten der Natur. Es war eine wunderbare Kindheit.»

Früh gelernt, was arbeiten heisst

Beim Besuch der 5. Klasse in der romanisch sprechenden Gemeinde Curaglia erlebte sie zum ersten Mal, was es heisst, nicht dazu zu gehören. Es war daher gut für sie, dass es dort mit der Übernahme der Pacht eines Hotels nicht klappte, und die Eltern ein Jahr später dann in Chur das Hotel Volkshaus übernahmen. «Vor und nach der Schule half ich im Service mit. Ich lernte dadurch früh, was arbeiten heisst.» Im Gegensatz zu ihren Brüdern sah ihr Vater für sie den Besuch des Gymnasiums nicht vor mit der Begründung: «Du heiratest ja doch.» Deshalb besuchte sie einfach die Handelsschule im Töchterinstitut Constantineum in Chur und wusste dabei bereits: «Ich will nicht lebenslang als Sekretärin arbeiten.» Einer der Brüder brachte ihr eines Tages eine Mappe mit Berufsbildern nach Hause und unterstützte sie auf der Suche nach anderen Möglichkeiten.

Das Eigene suchen
Angelica entschied sich für die vierjährige Ausbildung zur Physiotherapeutin an der Uniklinik in Zürich, wo dies 1972-76 ohne Matura möglich war. «Diese Zeit war wichtig für meine Selbstfindung. In einem langen und schmerzhaften Prozess lernte ich selber zu denken, eine eigene Meinung zu haben und gegen den Strom zu schwimmen.» In dieser Zeit lernte sie ihren Partner kennen, der damals an der ETH Architektur studierte. Nach der Ausbildung zog das unverheiratete Paar zum Entsetzen ihres Vaters in ein altes Haus im Tessin. Eine bewegte Zeit, wo beide erstmals ihren Berufseinstieg erlebten und - mit Hilfe einer Hebamme – im Haus sogar Gastrecht für eine verwandtschaftliche Hausgeburt anboten: «Ich wollte die werdende Mutter unterstützen und wurde später Tagesmama des Neugeborenen.» 1982 zog die Familie nach der Geburt der eigenen Tochter Franziska nach Luzern, wo 1984 auch Sohn Cornelius geboren wurde.

Eine Mangelwirtschaft par excellence

Die Familienphase erlebte Angelica widersprüchlich. «Zum einen war es eine grosse Freude und ein enormer Reichtum, die Kinder aufwachsen zu sehen. Gleichzeitig war es ein riesiger Krampf. Kinder verlangen sehr viel und das permanent, daneben kommt alles andere einfach zu kurz.» Sie arbeitete daher nur noch hie und da auf dem Beruf und nebenbei ein paar Jahre in der Schulpflege mit. Meistens war sie jedoch voll für die Familie da und stellte sich unweigerlich die Frage: «Ist das nun alles?» Ergänzend zur Arbeit ihres Mannes arbeitete sie ab Ende der 80er Jahre in Teilzeit als Sekretärin. «Ich fand es eine herausfordernde Zeit mit Arbeits- und Wohnungswechseln und den heranwachsenden Kindern. Doch haben uns diese Erfahrungen auch gestärkt.» Mit viel Glück konnten sie später ein hundertjähriges Haus erwerben, das ihr Mann mit grosser Sorgfalt sanierte. Dort wohnt Angelica noch heute in den beiden obersten Stockwerken.

Jetzt komme ich dran
Als ihre Mutter nach dem Tod des Vaters jedem Kind 5000 Franken verteilte, wusste sie: «Jetzt komme ich dran», und setzte das Geld für ein Studium ein. 2001 begann sie mit der zweijährigen Ausbildung im Bereich Führung zum Master of Advanced Studies in Business Administration MBA, die sie 2007/2008 mit einem Upgrade an der Hochschule Luzern Wirtschaft ergänzte. «Als einzige Frau - damals fast fünfzigjährig - zusammen mit 23 jungen Männern in einer Klasse war ich am Anfang sehr unsicher, ob ich es schaffen würde», erzählt sie rückblickend lachend.

Neue Berufsfelder im Gesundheitsbereich
Die Studien schafften die Basis für ihre Führungsarbeit in einer Zeit grosser Veränderungen im Bereich der Gesundheitsberufe. Ab 2002 leitete sie die Schule für Physiotherapie in Luzern bis zu deren Schliessung Ende 2009. Parallel dazu war sie ab 2006 Prorektorin am Berufsbildungszentrum Gesundheit und Soziales Luzern (BBZG), dessen Leitung sie 2009 übernahm. Nach ihrem Rücktritt Ende Schuljahr 2016/17 schrieb ihr Vorgesetzter: «Die Entwicklung der kantonalen Berufsfachschule mit den neu entstandenen Berufsfeldern, welche früher nicht oder nur teilweise anerkannt wurden, ist ein grosses Verdienst von Angelica Ferroni. Dazu gehören Fachfrau/-mann Gesundheit (FaGe), Fachfrau/-mann Betreuung (FaBe) mit allen drei Fachrichtungen Behinderten-, Betagten-, Kinderbetreuung sowie Assistent/-in Gesundheit und Soziales. Diese attraktiven Grundausbildungen schaffen die notwendigen Voraussetzungen, dem Personalmangel im Gesundheit- und Sozialbereich entgegenzuwirken.» Angelica freute es, dass sie sich beruflich entfalten konnte. Doch war ihre Arbeit mit enormen Herausforderungen verbunden, die sehr viel Überzeugungsarbeit verlangte. «Es war aus meiner Sicht entscheidend, dass auch die Berufe im Gesundheitswesen endlich direkt an die obligatorische Schulzeit anschliessen können gemäss dem Grundsatz ,Kein Abschluss ohne Anschluss’». Eine Bestätigung war die grosse Nachfrage an den neuen Ausbildungen, hat sich doch die Schülerzahl am BBZG während ihrer Amtszeit von 746 im Jahr 2008 auf 1530 bei ihrer Pensionierung 2017 mehr als verdoppelt.
Mit unermüdlichem Einsatz konnte sie wohl eine wertvolle Basis im Gesundheitswesen legen. Auch heute noch beschäftigt sie der zunehmende Mangel an Pflegekräften. Warum bewegt sich so wenig? «Liegt es daran, dass es lange Zeit ausschliesslich ein Frauenberuf war?», fragt sich Angelica und zeigt auf: «Es braucht mehr Geld und Arbeitsbedingungen mit mehr Gestaltungsspielraum. Es kann doch nicht sein, dass die Pflegefachpersonen noch immer in einem so engen Korsett wie vor 40 Jahren arbeiten müssen.» Sie verweist auch auf die Diskrepanz der Hierarchien zwischen ÄrztInnen und Pflegefachpersonen, die als unterschiedliche und gleichwertige akzeptiert werden müssen.

Eine wichtige Form der Partizipation
Gewohnt zu arbeiten, übernahm Angelica Ferroni unmittelbar nach ihrer Pensionierung das Präsidium des Forums Luzern60plus. Dieses besteht aus 60 Mitgliedern mit verschiedensten Lebenserfahrungen in unterschiedlichen Lebenssituationen. Vom Stadtrat eingesetzt, vertritt es die Interessen der älteren Menschen, greift deren Anliegen auf, nimmt Stellung und berät den Stadtrat zu relevanten Themen. Die mittlerweile fünf Jahre ihrer Amtstätigkeit waren für sie eine lehrreiche und lustvolle Zeit, in der sie viele tolle Persönlichkeiten kennenlernte. Sie schätzte es, dass das Forum mit seinen Anliegen ernstgenommen wurde und betont auf die Frage zu dessen Bedeutung: «Die Partizipation ist eine wirkungsvolle Ergänzung zu den üblichen politischen Prozessen. Das Forum ist beratend unterwegs, bringt Ideen und konkrete Inputs ein. Die Entscheide werden jedoch von der Politik gefällt.» Wichtig war ihr stets das Bewusstsein, Teil des Ganzen zu sein. «Die verschiedenen Altersgruppen müssen in einem Gleichgewicht zueinander stehen, Jede hat ihre Bedeutung.»

Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften

Schon 2005 hatte ein Artikel im Geo-Heft über eine Nachbarschaftshilfe in Deutschland ihr Interesse geweckt: «Die Abkehr vom Egoismus. Wie Gemeinsinn und Nächstenliebe neu entdeckt werden.» Nach direkten Gesprächen mit den Verantwortlichen vor Ort wusste sie: «Das machen wir auch in Luzern, ist doch die Nachbarschaftshilfe ein wichtiger Pfeiler der Gesellschaft im Alltag.» Nach enorm schwieriger ehrenamtlicher Aufbauarbeit, bei der stets das Geld fehlte, fand im Dezember 2012 die Gründungsversammlung der Genossenschaft KISS statt, die drei Jahre später zu «Zeitgut Luzern» umgetauft wurde. . Angelica beschreibt die Idee des Projektes: «Wer körperlich und geistig fit genug ist und sich bei Zeitgut aktiv beteiligt, kann ein Zeitguthaben aufbauen, mit dem die Person zu einem späteren Zeitpunkt bei Bedarf selber Hilfe in Anspruch nehmen kann und diese mit ihrem Zeitguthaben ausgleicht.» Der Genossenschaft angeschlossen sind Ende Dezember 2022 rund 675 Mitglieder. Bisher wurden total 821 «Tandems» aufgebaut, die sich gegenseitig Nachbarschaftshilfe leisten. Davon sind Ende Dezember 2022 519 «Tandems» abgeschlossen und 302 weiterhin aktiv, wobei sich die Grenzen zwischen «geben» und «nehmen» zusehends verwischen.
Während der Pandemie hat diese Art der Nachbarschaftshilfe einen echten Boom erfahren, auch jüngere Menschen meldeten sich. Inzwischen hat sich «Zeitgut Luzern» etabliert und ist mit vielen Partnerorganisationen vernetzt. 2022 wurde die Genossenschaft vom Regierungsrat mit dem Anerkennungs- und Förderpreis des Kantons Luzern ausgezeichnet. Für Initiantin und Präsidentin Angelica Ferroni ist es die grösste Bestätigung und der Motor zum Weitermachen. Sie betont die Bedeutung der unbezahlten Ökonomie, die ebenfalls eine Quelle unseres Reichtums ist: «Sie muss unbedingt im Bruttosozialprodukt der Schweiz eingerechnet werden.»

Ein grosses Geschenk

Während sich Angelica beruflich entfalten konnte und anspruchsvolle Aufgaben erfolgreich bewältigte, erfuhr sie privat eine schwierige Zeit, welche 2016 in einer Scheidung mündete. «Ich wollte nun ganz bei mir sein und wissen, wo ich stehe und wohin ich gehe. Ich verbrachte an den Wochenenden viel Zeit mit mir allein in der Natur und wusste: Ich will nicht Opfer sein. Dieser feste Wille brachte meine Füsse wieder auf den Boden. Es war ein schwieriger, ein schmerzhafter Prozess.» Rückblickend weiss sie nicht, wie sie das alles durchgestanden hat. Doch geniesst sie es, nach acht Jahren und auf das Alter hin wieder mit ihrem Mann zusammengekommen zu sein, jeder in der eigenen Wohnung. «Wir unternehmen viel zusammen, sehen uns fast täglich und hüten zusammen die zwei Enkelkinder.» Überglücklich ist sie auch als Grossmutter: «Es ist ein Reichtum nochmals mitzuerleben, wie Menschwerdung passiert, was es braucht, damit ein Mensch in die Gesellschaft hineinwachsen kann, was alles gelernt und geübt sein will. Mein Wirkungsgrad als Grossmutter ist dabei mindestens so gross wie jener, den ich als Rektorin hatte.»

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