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Wenn auf einmal alles anders ist

Monika Fischer

Ich fühlte mich gesund und fit. So oft wie möglich war ich zu Fuss unterwegs, sei es zum Einkaufen, auf Spaziergängen in der Natur oder auf Wanderungen in den Bergen. Eine gesunde Ernährung, wenn möglich mit Gemüse aus dem eigenen kleinen Garten, war mir wichtig. Seit einigen Jahren nahm ich Calcium für die Knochen und Magnesium gegen Krämpfe. Sonst brauchte ich keine Medikamente. Ausser bei den Geburten der Tochter und der vier Söhne war ich nie im Spital. Ich genoss mein aktives Leben und organisierte gerne gemeinsame Anlässe in unserer Grossfamilie. Die Streifung traf mich buchstäblich wie ein Blitz aus heiterem Himmel an einem gelungenen Familienfest.

(Fortsetzung)

Obwohl es mir den Umständen entsprechend gut ging, musste ich im Spital ein paar Tage in der Schlagabteilung mit Dauerüberwachung und vielen Abklärungen im Stroke-Center verbringen. Es war wohl im ersten Moment ein Schock, von einem Tag auf den andern angeschlagen zu sein. Doch warum sollte es nicht auch mich treffen? Ich spürte eine tiefe Dankbarkeit für meine 78 nicht immer einfachen, aber doch intensiven und reichen Lebensjahre. Ich empfand auch eine stille Genugtuung, dass nicht meine vielbeschäftigte Lebensweise Ursache der Attacke war, wovor ich oft gewarnt wurde. Vielmehr war es eine vorübergehende Durchblutungsstörung des Gehirns als Folge einer Verengung der Arterie. Zudem hatte ich Glück, beeinträchtigte doch das Ereignis mein Leben nicht allzu stark. Doch war es für mich ungewohnt, loszulassen und mich ganz der Pflege zu überlassen. Ich durfte nichts selber machen und musste die Pflegefachpersonen Tag und Nacht immer wieder stören. Das war nicht einfach für mich. Gleichzeitig war es ein gutes Gefühl, mich so gut umsorgt zu wissen.

Da die Kojen in der Abteilung nur mit einem Vorhang abgeschirmt waren, hörte ich vieles mit. Der frisch eingelieferte Patient in der Nachbarkoje rief dauernd «Scheisse, Scheisse, Scheisse», er fluchte und schimpfte. Geduldig erklärten ihm die Fachpersonen, dass er wegen der Lähmung künstlich ernährt werde und nicht essen und trinken dürfe. Der 71-Jährige bat den Pfleger, für ihn die Mitteilung auf dem Handy zu schreiben, er sei im Spital. Dieser las ihm das Geschriebene vor, bevor er es abschickte.
Die Geduld und Ruhe der Pflegefachpersonen erstaunte mich. Ich sprach zwei von ihnen darauf an. Sie erklärten, diese Station sei finanziell im Gegensatz zu andern gut dotiert, die Arbeit sei angenehm – und schon begannen sie zu erzählen. Sie berichteten von ihrem vorherigen Arbeitsort, vom täglichen Stress, von sich häufenden Überstunden, von einer Arbeitsweise, die kaum mehr lebbar gewesen sei.

Die Pflegefachleute munterten mich auf, meine Fragen bei der Arztvisite auch wirklich zu stellen. Zum Beispiel, ob und warum dieses oder jenes vorgesehene MRI oder CT nötig sei. Die auf eine fremde Herkunft der Ärztinnen und Ärzte deutenden Nachnamen fielen mir auf. Sie beherrschten durchwegs die deutsche Sprache und konnten meine Fragen in Verbindung mit den medizinischen Zusammenhängen so beantworten, dass ich sie mit meinem laienhaften Verständnis gut nachvollziehen konnte. Doch dachte ich daran, dass diese spezialisierten Fachpersonen in ihren Heimatländern fehlen.

Ein weiterer Spezialuntersuch wurde ambulant durchgeführt. Zuvor konnte ich zuhause das Vorgehen soweit für mich möglich studieren. «Sie haben ja ihre Einwilligung für den Untersuch noch gar nicht unterschrieben», meinte die Pflegefachfrau bei meinem Eintritt. Ich wies sie darauf hin, auf dem Blatt stehe, dass dies erst nach dem Arztgespräch erforderlich sei. «Wissen Sie, heute muss bei uns alles möglichst schnell gehen. Doch haben Sie recht, dass Sie das Gespräch einfordern», meinte diese. War ich also Sand im Getriebe der Tagesklinik, wenn ich auf meinem Recht beharrte? Einen Moment fühlte ich mich hin- und hergerissen. Es waren unnötige Gedanken. Der Facharzt erklärte mir das Vorgehen, gab bereitwillig und verständlich Antwort auf alle meine Fragen, zeigte Risiken und Nutzen des Untersuchs auf. Nachdem wir beide unterschrieben hatte, meinte er: «Und jetzt machen wir uns gemeinsam auf den Weg.» Das gute Gespräch gab mir das Vertrauen, mich ohne Angst auf den speziellen Untersuch einzulassen.

Die gesundheitliche Störung mit langer Erholungszeit war für mich verbunden mit grundlegenden Gedanken über die Begrenztheit des Lebens. Es wurde mir bewusst, wie komplex der menschliche Körper ist, wie vieles zusammenstimmen muss, damit wir uns bewegen, die Sinne einsetzen und wir selbstverständlich unsern Alltag bewältigen können. Die Erfahrung zeigte mir einmal mehr, wie privilegiert wir in der Schweiz mit unserem Gesundheitswesen und der hochspezialisierten Medizin und Technik sind.
Sie zeigte mir aber auch, wie wichtig in einer unsicheren Situation die Anwesenheit eines verständnisvollen Menschen ist. Wir sind empfindlich auf Kleinigkeiten, nehmen alles anders wahr. Mir ging es ja den Umständen entsprechend gut. Ich konnte mich für mich selber wehren. Was aber müssen Menschen empfinden, für die das nicht mehr möglich ist?

Dieses Erlebnis stimmt mich nachdenklich. Was nützen die beste Technik und Medizin, wenn Menschen vor lauter Stress ihre Arbeit nicht mehr machen können? Seit Jahren hören wir vom drohenden Pflegenotstand. Am 29. Dezember 2022 war im Tagi zu lesen: «Die Pflegekrise eskaliert in Europa – und trifft jetzt auch die Schweiz. Hunderte Spitalbetten sind gesperrt, Kranke müssen auf ihre Behandlung warten. Vor einer Mangellage wird schon lange gewarnt, doch jetzt fehlt das Pflegepersonal wirklich.» Das war keine schwarzmalende Schlagzeile. Es ist bittere Realität, die uns alle betreffen kann. Unverständlich, dass sich in der Politik so wenig bewegt. Sich deswegen entmutigt zurücklehnen? Nein, eine solche Haltung entspricht mir nicht. Die Erfahrung mit der gesundheitlichen Störung hat mich einmal mehr motiviert, mich mit meinen begrenzten Möglichkeiten mit andern zu vernetzen und für eine Aufwertung und bessere Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals einzusetzen. Auch die GrossmütterRevolution misst der Care-Thematik im 13. Jahr ihres Bestehens eine wichtige Bedeutung zu. Dafür bin ich dankbar.

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