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Das ganze Leben

Monika Fischer

«Warum arbeitest du noch so viel? Du könntest es doch jetzt so schön haben und das Leben geniessen!» Immer wieder höre ich diesen Ausspruch und entgegne: «Das mache ich doch. Ich geniesse das Leben aus vollen Zügen und schätze es, auch im Alter aktiv zu sein und mich z.B. bei der GrossmütterRevolution mit anderen Frauen für gesellschaftspolitische Anliegen zu engagieren.» Welche Energie dabei entsteht, erfuhr ich einmal mehr an der letzten Frühlingstagung. Wertvolle Anregungen gab mir auch das Referat der Psychotherapeutin Ingrid Riedel zum Thema «Abschied-Aufbruch-Neubeginn im Alter.»

(Fortsetzung)

Die bekannte Buchautorin beschrieb die drei Lebensstufen im Alter. Diese verlaufen nicht genau nach Lebensjahren, sondern individuell unterschiedlich und fliessen ineinander über. Mir wurde bewusst, dass ich mich mit meinen 77 Jahren noch immer in der Phase des aktiven, jungen Alters fühle. Gleichzeitig zeichnet sich das mittlere Alter langsam ab, stelle ich mir doch immer wieder die Frage: «Wo will und kann ich künftig noch aktiv sein?» Im hohen Alter gehe es darum, Freiraum für die innere Freiheit zu schaffen, zeigte die 87jährige Referentin auf. Es gehe nicht mehr um die Nützlichkeit. Vielmehr gelte es, das Leben als solches kostbar und lebenswert zu sehen. Zu leben um des Lebens willen. Sich selber zu leben.

Was das heissen kann, erfahre ich seit einigen Monaten im Zusammensein mit Martha. Ich kenne sie seit Jahrzehnten als Frau eines ehemaligen Kollegen und freute mich jeweils auf die Begegnung bei meinem jährlichen Besuchen. Beim Wiedersehen im letzten Herbst nach einem pandemiebedingten Unterbruch von zwei Jahren war ich überrascht von ihrer Demenzkrankheit. Das Thema war für mich nicht fremd. Als Spitexpräsidentin und später als Präsidentin der Kantonalen Kommission für Altersfragen hatte ich mich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt und als Journalistin viel darüber geschrieben. Doch zum ersten Mal betraf es jetzt einen Menschen, der mir seit Jahrzehnten vertraut ist. Es erschütterte mich zutiefst zu beobachten, wie die Betreuung zuhause meinen betagten Kollegen an seine Grenzen brachte. Obwohl sie nun in einer anderen Zeit lebte, war Martha sich selber geblieben. Ihre Liebenswürdigkeit hatte sich sogar noch gesteigert. «Komm bald wieder. Ich freue mich immer, wenn du zu uns kommst. Du bist immer herzlich willkommen», sagte sie mir zum Abschied.

Diese Worte unterstützten meinen schnell gefassten Entscheid, wusste ich doch spontan, was jetzt für mich wesentlich ist. Ich bot meinem Kollegen an, regelmässig ein paar Stunden mit Martha zu verbringen, damit er in dieser Zeit etwas für sich unternehmen konnte. Zu meiner Überraschung war er damit einverstanden. «Ich habe gesehen, dass du gut mit ihr umgehen kannst», antwortete er auf meine diesbezügliche Frage.

Ein paar Monate besuchte ich Martha regelmässig jede Woche zuhause, seit ihrem Eintritt ins Pflegeheim mit grösseren Abständen. Die Zeit mit Martha wurde für mich zu Sternstunden. Sie geben mir eine Ahnung davon, was innere Freiheit im Alter bedeuten kann. Ich bin ganz da im Jetzt, versuche auf sie einzugehen, einen Faden zum Leben in ihrer Welt und zu ihrem ureigenen Wesen zu finden. Wenn sie mag, sprechen wir von früher. Wir erzählen einander, wie wir die Schulzeit, die Fasnacht, die Kilbi erlebt haben. Es sind für mich erfüllte Momente, wenn ihre Augen strahlen und wir herzlich lachen können. Ich spüre, wie bei diesen Erinnerungen Glückshormone ausgeschüttet werden. Das ist gemäss Ingrid Riedel im Alter besonders wichtig.

Es gibt aber auch schmerzliche Momente. Besonders dann, wenn Martha beim Abschied unbedingt mitkommen möchte, nach Hause zur Mutter. Nur am Rand kann ich erfassen, wie schwierig solche Situationen für ihren langjährigen Ehemann sein müssen! Fast täglich ist er neben dem langsamen Abschied neu damit konfrontiert.

Mir bleibt es, auch mit ihm in Kontakt zu sein, mitzufühlen und mitzutragen. Es gibt mir eine Ahnung davon, was es heisst, bis zuletzt das ganze Leben zu leben, zu dem Freude und Glück ebenso gehören wie Schmerz und Leid.

Oft sind meine Gedanken auch im Alltag bei Martha. Bei ihr und allen den andern Menschen, die im hohen Alter ganz auf eine gute Pflege und Betreuung angewiesen sind. Sie sind mir weiterhin Ansporn für mein persönliches Engagement im Einsatz für Rahmenbedingungen, die Menschen auch im hohen Alter unabhängig vom Gesundheitszustand ein Leben in Würde ermöglichen.

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