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Ein Leben auf der Suche

Ausgehend von einer naturbezogenen Spiritualität mit Mutter Erde als Ernährerin im Zentrum, ist für Ursula Popp, 71, der Einsatz für Umwelt und Gerechtigkeit wichtig.
Ausgehend von einer naturbezogenen Spiritualität mit Mutter Erde als Ernährerin im Zentrum, ist für Ursula Popp, 71, der Einsatz für Umwelt und Gerechtigkeit wichtig.

Text und Foto: Monika Fischer

Sie ist um die ganze Welt gereist, arbeitete als Buchhändlerin, Berufsberaterin, Therapeutin und hat in Seattle USA eine Schule für die Ausbildung in Craniosacral Therapie aufgebaut. Seit Jahrzehnten übt Ursula Popp die volle Präsenz im Zen und bietet im Lassalle-Haus in Edlibach bei Zug den Jahreskurs «Das Beste kommt noch, Sinn und Spiritualität im Alter» für Menschen nach der Pensionierung an. Auf der Suche nach Zugehörigkeit fand sie nach ihrer Rückkehr aus Amerika die GrossmütterRevolution. Diese ist ihr zur Heimat geworden, was sie auch anderen Frauen ermöglichen möchte. Deshalb engagiert sie sich bei den aktuellen Veränderungen im Vorbereitungsteam für die Entwicklung der neuen Strukturen des künftigen Vereins GrossmütterRevolution.

(Fortsetzung)

Das Gespräch mit Ursula Popp am Vormittag des 14. Juni führt unmittelbar zur Frage, welche Bedeutung der Frauenstreik für die Weitgereiste hat. «Ich finde ihn nach wie vor wichtig, um die Anliegen der Frauen bezüglich Gleichberechtigung, Unterdrückung, Sexismus, Frauenfeindlichkeit, Gerechtigkeit usw. publik zu machen. Nur durch gemeinsamen Einsatz sind Veränderungen möglich», ist sie überzeugt und meint im Rückblick auf ihre Jugend: «Ich kannte damals niemanden, der sich für die Rechte der Frauen einsetzte.»

«Ich muss selber für mich schauen»
Zusammen mit zwei älteren Brüdern ist sie in St. Gallen in einem sehr katholischen, bürgerlichen und patriarchalen Milieu aufgewachsen. «Als Legasthenikerin habe ich es in der intellektuell geprägten Familie einfach nicht gebracht. Ich war verzweifelt und wusste nicht, warum ich nicht lesen und schreiben konnte, galt als dumm und faul. Ein Bruder sagte mir später, sie hätten gedacht, ich sei minderbemittelt.» Wie froh war sie, als nach der Abklärung bei einem Psychologen die Diagnose feststand. «Ich bekam Nachhilfe und schaffte nach einem Jahr in einem Institut irgendwie die Sekundarschule.»
Sie war 14, als der Vater starb und sie angesichts der Trauer der Mutter den Entscheid fasste: «Ich muss selber für mich schauen.» Sie rebellierte gegen ihr Umfeld und besuchte die Gottesdienste nicht mehr. «Ich stand immer wieder für mich, für Umwelt und Gerechtigkeit ein.» Nach dem Besuch des 10. Schuljahres und einem Jahr in England begann sie ihre Ausbildung zur Buchhändlerin. «Diese schloss ich als Beste des Jahrgangs ab, was zeigte: Der Knopf hatte sich geöffnet.»

Weltreise als Horizonterweiterung
Die gelernte Buchhändlerin arbeitete selbständig und erfolgreich als Verlagsvertreterin und kannte jede Buchhandlung in der Deutschen Schweiz. Trotzdem begann sie berufsbegleitend die Ausbildung zur Berufs- und Laufbahnberaterin. Als sich in ihrer früh geschlossenen Ehe neben anderem der Kinderwunsch nicht erfüllt hatte, liess sie sich nach neun Jahren scheiden und fragte sich: «Was jetzt? Was könnte mich begeistern im Leben?» Sie brach alle Zelte ab und wollte die Welt erfahren. Sie meinte das buchstäblich, indem sie nicht fliegen, sondern verschiedene Transportmittel am Boden in Richtung Osten, des Sonnenaufgang, nutzen wollte. Die dreieinhalbjährige Weltreise führte sie nach Afrika, Asien, Australien, in den hohen Norden und tiefen Süden Amerikas. Mindestens zwei Monate weilte sie jeweils im gleichen Land, wollte sie doch das Leben der Menschen in ihrem Umfeld wirklich erfahren, was für sie eine enorme Horizonterweiterung bedeutete. An einem Erlebnis in Indien erklärt sie, was sie damit meint.
Bei einem Spitalaufenthalt lernte sie eine Frau kennen, die kurz zuvor geheiratet hatte. Diese erzählte ihr, wie sie nach drei Interviews mit möglichen Heiratskandidaten vom vierten Mann ausgewählt worden war und mit ihm glücklich und zufrieden sei. Die Praxis der arrangierten Ehen störe sie nicht, im Gegenteil, sei doch dank dem Einverständnis der Eltern auch deren Unterstützung garantiert. Die Liebe könne in der Ehe wachsen, wogegen Liebesheiraten nicht selten nur ein Strohfeuer seien. Für Ursula Popp zeigte diese Erfahrung, wie wichtig es ist, nicht von unserer Kultur her zu denken, die arrangierte Ehen als Bevormundung und Unterdrückung der Frau empfindet. «Vielmehr ist es mir wichtig, anderen kulturellen Begebenheiten und Sichtweisen mit Toleranz zu begegnen. Was weiss ich schon, wie Frauen mit Schleier ihr Leben erfahren.»

Immer wieder aufbrechen
Sie hatte sich vorgestellt, sie könne nach der Rückkehr 1991 an ihrem gewohnten Leben in der Schweiz anknüpfen. «Es war eine Illusion. Der Kulturschock war zu gross, und ich hatte mich zu sehr verändert.» Dennoch schloss sie ihre Zweitausbildung zur Berufs- und Laufbahnberaterin ab. Im Berufsalltag merkte sie bald: «Es ist nicht das, was ich gesucht hatte. Als Buchhändlerin hatte ich über Bücher geredet, als Berufsberaterin mit und über Menschen gesprochen. Das reichte nicht, ich wollte diese auch heilend anfassen. Deshalb machte ich berufsbegleitend eine vierjährige Ausbildung zur Craniosacral Therapeutin.» Als sie spürte, dass ihr dabei der medizinische Unterbau fehlt, brach sie erneut alle Zelte ab und fuhr zum Studium der chinesischen Medizin in die USA. In Seattle baute sie eine Schule auf, wo sie angehende Therapeutinnen und Therapeuten in Craniosacral unterrichtete. Mehr und mehr wurden ihr neben den körperlichen auch die spirituellen Bedürfnisse eines Menschen wichtig.

Dasein mit sich
Schon während ihrer Ehe hatte sie eine Psychotherapie gemacht und sich danach auch weiter mit sich beschäftigt. 1986 war sie im Lassalle-Haus beim bekannten Zen-Meister Niklaus Brantschen in die Zen-Meditation eingestiegen. Seither pflegt sie das regelmässige Meditieren, sei es allein auf ihrer Weltreise, sei es in einer Gruppe in Amerika.
Warum gerade Zen? Ursula erzählt: «Während der Psychotherapie hatte ich mich mit der katholischen Kirche auseinandergesetzt und mich mit ihr versöhnt. Obwohl ich ausgetreten war, besuchte ich wieder Gottesdienste und fand es schön, miteinander zu singen und am Ende mit dem Segen heimzugehen. Und doch fand ich im Zen eine ganz andere Dimension. Es geht darum, ganz präsent zu sein und zu hören, ohne verändern und manipulieren zu wollen. Dasein mit sich, mit dem, was gerade jetzt ist. Ähnlich ist es bei Craniosacral.»

Mutter Erde als Ernährerin
Eine Zeitlang unterbrach sie diese Praxis und wandte sich der nordamerikanischen Indianerspiritualität zu, was bei uns als Schamanismus bezeichnet werde. «Es geht dabei um eine naturbezogene Spiritualität mit Mutter Erde als Ernährerin von uns allen im Zentrum.» Sie berichtet vom spirituellen Weg mit dem Symbol vom Rad mit den vier Himmelsrichtungen: Osten als Symbol für das Neue, den Anfang, den Frühling. Süden, die Zeit der Liebe, Heilung, wo alles wächst und reift. Westen als Zeit der Ernte, aber auch des Mystischen, Namenlosen. Norden für den Winter: Zeit, in sich zu gehen und Kräfte für den Frühling zu sammeln. Die Himmelsrichtungen verbunden mit dem Geschehen in der Natur stehen auch für die verschiedenen Lebensphasen. Fasten, Visionssuche, verschiedene Rituale begleiten den Menschen auf seinem spirituellen Weg,

Jahreskurs Alter «Das Beste kommt noch»
«Ich habe immer alles lang gemacht, wollte dazugehören und musste mich befreien, wenn es nicht mehr stimmte. Doch haben mich die Widerstände gestärkt», hält Ursula im Rückblick auf ihr wechselvolles Leben fest. So war es auch, als sie sich dem Pensionsalter näherte. Das Bedürfnis, wieder einmal bei ihrem Lehrer Niklaus Brantschen zu meditieren, führte sie in die Schweiz zurück. Auf ein Inserat hin meldete sie sich zum Probewohnen im Lassalle-Haus und gewann nach zwei Wochen den Eindruck, hier eine Aufgabe für Menschen in der Lebensphase Alter zu haben. In der Gemeinschaft der Indianer in Amerika hatte sie erfahren, dass dort die alten Menschen verbunden mit der im Leben gewonnenen Weisheit einen ganz anderen Stellenwert haben. Sie sind es, die die Geschicke eines Stammes bestimmen und hochgeschätzt werden, weil sie nicht egoistisch, sondern mit verantwortungsvollem Blick auf die 7. Generation nach ihnen zum Wohl der Welt konsequent handeln. Ausgehend von dieser anderen Sicht der Indianer entwickelte sie den Jahreskurs «Das Beste kommt noch, Sinn und Spiritualität im Alter» für Menschen nach der Pensionierung im Lassalle-Haus. Wichtig war ihr, dass sich die Beteiligten in den über neun Monate verteilten Modulen zu einer Gemeinschaft zusammenfinden. Das Angebot fand Anklang. Ab 2018 konnte sie den Kurs viermal durchführen. Nach einem pandemiebedingten Ausfall ist er für 2023 wieder ausgeschrieben. Daneben leitete Ursula Fastenkurse und wirkte als Zen-Assistenz Lehrerin.

Von den Jesuiten zur GrossmütterRevolution
Obwohl sie zeitlebens viel Energie hatte, kostete ihr die Migrationserfahrung aus den USA zurück in die Schweiz viel Kraft. «Ich wurde dauernd kritisiert, gibt es doch in der Schweiz klare Vorstellungen davon, wie etwas sein soll.» Zudem wusste sie nach der Rückkehr: «Ich habe keine Freunde hier und muss mich vernetzen.» Deshalb meldete sie sich 2019 zur Frühlingstagung der GrossmütterRevolution an. Da es mit dem Aufbau einer eigenen Arbeitsgruppe über die Rolle der alten Frauen in unserer Gesellschaft nicht klappte, macht sie seither bei der AG DenkRäume mit. «Sie wurde mir zu einer Art Heimat. Bisher war ich immer mehr oder weniger allein. Nun hatte ich Gleichgesinnte getroffen, es war herrlich.»
Einen Gegensatz dazu bildete die patriarchale Männergesellschaft im Haus der Jesuiten: «Es herrschten ähnliche Strukturen wie früher in meiner Familie. Von den Frauen erwartete man, dass sie zudienen und genügsam sind, es gab kaum Wertschätzung.» Aus Sehnsucht nach Zugehörigkeit in einer Gemeinschaft hatte sie in Seattle ihr selbständiges Leben mit eigenem Haus, Garten, Hund, zwei Geschäften und sehr viel Gestaltungsmöglichkeit aufgegeben - und spürte bald: «Das funktioniert nicht.» Nach vier Jahren zog sie deshalb in eine Wohnung nach Cham, wo auch ihre Hündin Nala (= Geschenk) ein neues Zuhause gefunden hat. Sie merkte, dass sie mit ihren Kursen und viel zusätzlicher freiwilliger Arbeit im Lassalle-Haus zu viel gearbeitet hatte und begann sich zurückzuziehen.
Umso wichtiger ist ihr die GrossmütterRevolution geworden. Im Oktober gibt das Migros-Kulturprozent nach zwölf Jahren die finanzielle und organisatorische Trägerschaft an den gemeinnützigen Verein GrossmütterRevolution ab. Deshalb arbeitet Ursula Popp mit grossem Einsatz in der Vorbereitungsgruppe für die neuen Strukturen mit. «Wir Frauen funktionieren anders und erleben einen ganz anderen sachbezogenen Umgang miteinander als in patriarchalen Systemen. Es geht dabei nicht nur um Inhalte, sondern auch um die Form, wie miteinander umgegangen wird, was systemrelevant ist.» Dankbar für ihr reiches Leben betont sie: «Es ist ein Privileg, in dieser Zeit eine Frau zu sein.»

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