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Care und Share statt Krieg

Monika Fischer

Im Hinblick auf die Endlichkeit möchten sich viele Menschen im Alter im Rückblick auf das Leben mit dem, was war, versöhnen. Im Jubiläumsjahr 50 Jahre Frauenstimmrecht wurde mir bewusst, wie weit entfernt ich davon noch bin. Als ich wieder einmal mit den erfahrenen Ungerechtigkeiten als Frau haderte, empfahl mir ein Freund das Buch «Die Wahrheit über Eva. Über die Entstehung der Ungleichheit von Mann und Frau»*. Dieses zeigt auf: Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist weder biologisch noch mit der Natur zu erklären, geschweige denn von Gott gewollt. Sie ist vielmehr ein Produkt der kulturellen Evolution und dadurch veränderbar. Das Buch hilft mir im Prozess der Versöhnung, mehr noch: Es gibt mir Erklärungen zum unfassbaren und grausamen Krieg in der Ukraine, ausgelöst durch einen Autokraten mit Grossreichfantasien vergangener Zeit.

(Fortsetzung)

Zurück zu Eva: Beim Lesen des erwähnten Buches musste ich immer wieder tief durchatmen und innehalten. Es war für mich eine Befreiung und Bestätigung zu erkennen: Meine Erfahrungen und Verletzungen haben nicht mit meiner Unfähigkeit als Frau zu tun. Sie stehen vielmehr im Zusammenhang mit der Geschichte und dem Umfeld, in dem ich lebe.
Manches war für mich bekannt. Zum Beispiel der Zusammenhang zwischen der Diskriminierung der Frauen und der biblischen Eva, die in der christlichen Lehre als Ursache für alles Übel in der Welt dargestellt wird. Ich kenne wohl die andere Interpretation der Paradiesgeschichte. Sie zeigt Eva als starke Frau, die im Streben nach Wissen und Erkenntnis als erste mutig zur verbotenen Frucht greift. Und doch wird mir einmal mehr bewusst, wie sehr ich von der verhängnisvollen Eva-Geschichte im Christentum geprägt bin, die Frauen verbunden mit der weiblichen Sexualität als von Natur aus schlecht hinstellt.

Uraltes Erbe
Neu und befreiend war für mich bei der Lektüre die Verortung meiner Lebens- in einer sehr langen Menschheitsgeschichte. Ich fühlte mich eingebettet in einer unendlich weiten und tiefen Landschaft. Vieles, das ich mein Leben lang empfunden hatte, waren nicht einfach die Gefühle einer unzufriedenen Frau, wie mir vorgeworfen worden war. Nein, auch unzählige andere Frauen hatten sich während Jahrtausenden gegen die erfahrenen Ungerechtigkeiten aufgelehnt. Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel zeigen anhand der Forschungen zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Feministinnen auf: Über Jahrtausende hinweg hatten die Menschen vor der Zeit des Patriarchats egalitär gelebt. Bei den Jägern und Sammlern wäre das Überleben ohne Share und Care, Teilen und Sorgen gar nicht möglich gewesen. Wie gut tat das Bewusstsein, dass dieses uralte Erbe noch immer in mir und zahlreichen anderen Menschen lebt.

Ansammeln von Besitz führte zu Krieg
Die Ungleichheit begann mit der Sesshaftigkeit und der Landwirtschaft. Das Ansammeln von Besitz musste durch die männliche Erbfolge gesichert und verteidigt werden, was Sache der Männer war. Frauen wurden durch die neue Arbeitsbelastung und durch zahlreiche Geburten geschwächt. Seither gelten sie als das schwache Geschlecht. Zudem entstanden soziale Ungleichheiten, denn einige Männer besassen viel und wollten immer mehr. Dies verlieh ihnen Macht und Ansehen, vor allem, wenn sie bei der Verteidigung des Besitzes im Krieg als Gewinner hervorgingen. Diesem Machtstreben wollte sich vor über 2000 Jahren Jesus von Nazareth, ein Freund der Frauen und der Benachteiligten, mit seiner Botschaft der Liebe und im Einsatz für Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Solidarität mit den Armen etwas anderes entgegensetzen. Doch im Gegensatz zu seiner Lehre hat sich das Christentum in Verbindung mit der frauenfeindlichen griechischen Philosophie zur Herrschaftsreligion entwickelt. Über Jahrhunderte wurden im Laufe der Geschichte starke, unabhängige Frauen abgewertet, entmündigt, verleumdet und verfolgt und gar als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Verhängnisvolles Frauenbild
So wurde im Christentum neben Eva als Sünderin die Muttergottes Maria als Gegenbild und Vorbild für alle Frauen etabliert: Eine Frau ohne Sex, demütig und ohne eigene Bedürfnisse, die selbstlos für Mann und Kinder da ist. Dieses von der Gesellschaft übernommene Vorbild hat viele Frauen in der aktuellen Grossmutter Generation geprägt. Sie bekamen Schuldgefühle, wenn sie dem nicht entsprachen. In diesem Sinn war für mich das Buch hilfreich im Prozess der Versöhnung.

Vom Jäger zum Krieger
Doch zurzeit bin ich in Gedanken bei den Menschen in der Ukraine, darunter langjährige Freundinnen und Freunde. Es ist unfassbar, ja entsetzlich, wie sich der brutale Krieg des verblendeten Aggressors ohne Rücksicht auf die Menschen im Land ausbreitet. Ich sehe die Verbindung zum eben gelesenen Buch. Wohin haben uns die kulturellen Veränderungen gebracht? Da müssen wir hilflos zusehen, wie der Präsident des grössten Landes der Welt seine imperialistischen Machtansprüche mit Gewalt fast ungehindert durchsetzen kann. Der Jäger aus der Urzeit, der zum mächtigen Herrscher und Krieger wurde, der mit seinem kleinen Stab von Ergebenen auch immer wieder seine Männlichkeit zur Schau stellen muss? In einem Text von Barbara Marti in INFOsperber vom 6. März lese ich, dass Wladimir Putin kurz vor Kriegsbeginn wie ein Vergewaltiger über die Ukraine sprach: «Ob es dir gefällt, oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden.»

Nicht aufgeben
Lernen wir Menschen nichts aus der Geschichte? Braucht es immer wieder die bitteren Erfahrungen eines Krieges, damit die Menschen zur Besinnung kommen? Hat der desolate Zustand auf unserer Welt damit zu tun, dass Macht und Geld im Zentrum stehen und die Bedürfnisse der Menschen dabei vergessen gehen?
In mir regt sich das uralte Blut meiner Ahninnen. Es gab einmal eine Zeit, in der das Überleben der Menschen nicht möglich war ohne Share und Care, ohne Sorgen und Teilen. Ein gutes Leben für alle im Frieden und im Einklang mit der Natur: Es bleibt für mich die Vision, für die ich mich weiterhin einsetzen will. Kraft dazu geben mir die vielen mutigen Menschen in der Ukraine mit ihrem Widerstand und die weltweiten Friedensdemos in Gelb und Blau.


Ukrainischer Friedensengel von Hugo Schär-Tkachenko
Ukrainischer Friedensengel von Hugo Schär-Tkachenko

DIE WAHRHEIT ÜBER EVA: Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern.
Carel von Schaik & Kai Michel, Rowohlt Verlag 2020, ISBN 978-3-498-00112-4

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