Schliessen

Keine Angst mehr vor dem Sterben

Gelassen und frei: Die existentielle Grenzerfahrung in der Lawine hat Monika Dreier (Leuthold) gezeigt, was im Leben wirklich wichtig ist.
Gelassen und frei: Die existentielle Grenzerfahrung in der Lawine hat Monika Dreier (Leuthold) gezeigt, was im Leben wirklich wichtig ist.

Text und Foto: Monika Fischer

Im Zusammenhang mit einem Konzert der Cello-Familie Leuthold begegnete ich Monika Dreier, 68, erstmals. Auf der Bühne spielten Vater, Mutter und die drei Kinder auf ihren der Grösse angepassten Instrumenten: eine perfekte Familienidylle. In persönlichen Gesprächen erfuhr ich, dass der Schein trügt. Monika litt unter der Partnerschaft, harrte jedoch aus Angst vor den Konsequenzen und den Kindern zuliebe aus, bis diese selbständig waren. Sie arbeitete als Cellolehrerin, als Töpferin, später in einer Institution mit behinderten Menschen und machte mit 46 Jahren eine Zweitausbildung zur Pflegefachfrau HF. Im März 2006 überlebte sie ein Lawinenunglück. Das hat ihr Leben grundlegend veränderte.

(Fortsetzung)

Schon früh beschäftigte sie sich mit den Grundfragen des Lebens und fragte sich: «Warum kommen wir zur Welt und müssen wieder gehen?» Sie schildert ihre Kindheit und Jugend in einer wohlhabenden Familie in der Stadt St. Gallen und erklärt: «Es hat mich geprägt, dass man mich nicht wollte, weil ich zu früh kam.» Die Mutter war beim ersten Kind erst 19. Monika kam schon anderthalb Jahre später und sei ein Heulkind gewesen. «Früh habe ich gelernt, dass man mich nur gernhat, wenn ich mache, was die andern nicht gerne tun. Darin bin ich gut.» In der Kantonsschule musste sie viel lernen, um mitzukommen. Sie ass nicht mehr, wog nur noch 31 Kilo und wollte sterben. Mit der Unterstützung eines Beraters der «Dargebotenen Hand» entschied sie sich fürs Leben.

Nie richtig wahr- und ernstgenommen
Doch wollte sie weg von zuhause und absolvierte das Lehrerseminar in Rorschach, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, vor einer Klasse zu stehen. Deshalb machte sie am Konservatorium in Zürich neben dem Cellostudium eine Ausbildung in musikalischer Grundschulung und Früherziehung. Dabei lernte sie den Cellisten und Sozialarbeiter Ruedi Leuthold kennen. Gemeinsam leitete das Paar ein Jahr in Trasadingen eine sozialpädagogische Wohngemeinschaft für acht Jugendliche. Monika bekam durch Spenden einen Töpferofen und gestaltete mit den Jugendlichen die Nachmittage mit Formen aus Ton. Ungeplant wurde sie schwanger und bekam 1979 die erste Tochter. Ein Sohn und eine weitere Tochter folgten. Rückblickend meint sie: «So entstand unsere Familie eher zufällig, was keine gute Basis war. Ich wünschte, die Familien- und Erwerbsarbeit mit meinem Mann zu teilen, kam jedoch nicht zum Zug. Mein Mann hat mich nie richtig wahr- und ernstgenommen. Ich fühlte mich ohnmächtig, weil er sich immer wieder durchsetzen konnte.»

Familienleben
Sie wollte ihr Leben nach ihren eigenen Werten gestalten. In Willisau gab sie 15 Schüler*innen, darunter ihren drei Kindern, und einigen Erwachsenen Cellounterricht. Sie bot Töpferkurse für Kinder und Erwachsene an und machte alles Gebrauchsgeschirr selber. Hie und da organisierte sie eine Ausstellung mit ihren Werken, die sie jedoch meistens verschenkte. Sie handelte nicht gerne mit ihrer eigenen Ware. Ihre farbenfrohen Teller, Becher, Schalen und Töpfe erinnern mich wie wohl viele andere täglich an sie.

Sowohl als auch
Lange trug Monika das gegen aussen ideale Bild der Familienidylle mit, zumal sie keine Alternative für sich als Frau sah. Bis eine Tantra-Ausbildung ihren Mann völlig veränderte. «Es entsprach mir nicht, was er von mir verlangte. So haben wir uns auch körperlich voneinander entfernt. Ich wollte nichts als meine Ruhe finden.» Als alle drei Kinder in der Ausbildung waren, wollte sie endlich selbständig werden und ein eigenes Konto haben. Bei der Arbeit in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen lernte sie ihren bisherigen Celloschüler Robert besser kennen und lieben. Sie schätzt seine Fürsorglichkeit, seine Zuverlässigkeit und wie er schwierige Situationen meistern kann. Um sich noch einmal neu zu orientieren, zog sie vom Familienhaus in eine Eineinhalbzimmerwohnung in Zug und begann mit 46 Jahren die vierjährige Ausbildung zur dipl. Pflegefachfrau HF. Seither wohnt sie in Zug zusammen mit ihrem Lebenspartner und kehrt regelmässig für ein, zwei Tage ins Familienhaus nach Willisau zurück. Denn bis heute pflegt sie mit dem Vater ihrer Kinder, der seit jeher eine offene Ehe wollte, eine freundschaftliche Beziehung. Eine Dreiecksbeziehung also? Ein Leben zwischen zwei Männern? «Nein, überhaupt nicht!», meint sie entschieden, «es ist kein Dazwischen, sondern ein Sowohl als auch.» Nach Abschluss der Ausbildung begann sie 2005 eine 80 % Stelle im Stadtspital Triemli. Es erstaunt sie, dass ihre drei Kinder trotz der schwierigen Partnerschaft ihrer Eltern den Mut hatten, eine Beziehung einzugehen und Kinder auf die Welt zu stellen.

Im Sterben zu sich gefunden
Gegen Ende des schneereichen Winters 2006 passierte am 19. März das Ereignis, das ihr Leben grundlegend veränderte. Auf einer Schitour mit Familie und Freunden wurde sie im Oberalpgebiet als einzige einer achtköpfigen Gruppe von einer Lawine erfasst und mitgerissen. Diese Erfahrung schilderte sie mir später in einem Interview wie folgt: «Als ich von einer Lawine verschüttet wurde, traf das ein, vor dem ich am meisten Angst gehabt hatte. Ich erwachte zusammengequetscht unter den Schneemassen. Es war dunkel und kalt. Ich fühlte mich allein und bekam keine Luft. Voller Todesangst und Verzweiflung erinnerte ich mich an Jesus am Kreuz und schrie: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Die Minuten, in denen ich mich von lieben Menschen und vom Leben verabschiedete, kamen mir vor wie Jahre. – Mit der Zeit fiel alles Bedrückende von mir ab. Eine unendliche Zufriedenheit und Geborgenheit erfüllten mich. Mit dem Gedanken ‚jetzt kommt alles gut’ schlief ich ein.»

Am Ende ist alles gut und heil
In der Lawine hatte Monika Dreier versöhnt mit dem Leben abgeschlossen. Deshalb bedauerte sie nach dem Aufwachen, noch am Leben zu sein. Sie fragte sich nach dem Sinn dieser Rückkehr ins Leben und wusste: «Ich will ein Buch schreiben und andern Menschen diese tiefe Erfahrung der Zufriedenheit mitteilen.» Der Weg in die Normalität des Alltags erwies sich als lang und beschwerlich. Aus der Pflegefachfrau war eine schwer verletzte Patientin geworden, die selbst der Pflege bedurfte. Es war ein Rollentausch, der ihr die Augen öffnete für die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten.

Es dauerte einige Monate, bis sie die Kraft zum Schreiben fand. Im Buch «Die Lawine. Ich bin drunterdrindraussen» (Verlag Claudia Wartmann Natürlich, 2008) drückte sie in feinen Aquarellen das aus, wofür sie keine Worte fand. Auch im Fernsehen und Radio berichte sie von ihrem Nahtod-Erlebnis und wollte damit den Menschen die Angst vor dem Sterben nehmen.

Begleitung in der letzten Lebensphase
Eine tragende Rolle hatte sie ebenfalls im Film «Die Weisse Arche» (2016) von Edwin Beeler. Dieser zeigte sie auch bei ihrer Arbeit bei der Pflege und Betreuung auf der Demenzabteilung des Pflegeheims Chlösterli in Unterägeri. Denn die Erfahrung in der Lawine hatte auch ihre Einstellung zu Krankheit und Leiden verändert. Wegen der durch den Unfall bedingten körperlichen Einschränkungen hatte sie vom Akutspital in die Demenzabteilung gewechselt. Dort war es ihr Anliegen, den Menschen in der letzten Lebensphase mit Würde und Respekt zu begegnen und ihnen zu geben, was sie am meisten brauchten: Zeit und Zuwendung. Dabei geriet sie immer wieder in Konflikt mit den Strukturen der Institution. Doch fand sie selbstbestimmt ihren Weg: «Ich nutzte meinen Spielraum aus und konnte den einzelnen Menschen das geben, was sie brauchten. So war die Arbeit für mich letztlich stimmig.» In ihrem zweiten, ebenfalls im Verlag Claudia Wartmann Natürlich 2012 herausgekommenen Buch «Aber sterben werde ich gut» schildert sie noch unter dem Namen Monika Leuthold die Begleitung ihrer Mutter bis zum Tod sowie in eindrücklichen Märchen-Fragmenten Alternativen zu ihrem Berufsalltag im Pflegeheim. Ein Jahr später nahm sie ihren Mädchennamen wieder an.

Vertrauen in sich und das Leben
Seit ihrer Pensionierung lebt Monika Dreier mit 3000 Franken im Monat einfach und zufrieden. Materielles hat für sie keine Bedeutung mehr. Sie reist mit dem GA, wandert, hütet Enkelkinder, begleitet ihre Tante und eine Freundin und macht als Freiwillige Dienst im Hospiz Zentralschweiz. «Nun stehe ich wieder von einer neuen Lebensphase, werde ich doch als Grossmutter von sechs Enkelkindern pensioniert, da ich zum Hüten nicht mehr gebraucht werde», meinte sie beim letzten Treffen, und hielt fest: «Ich komme mir vor wie in jener Zeit, als alle drei Kinder das Haus gleichzeitig verliessen. Einerseits spüre ich ein Bedauern, andererseits bin ich erleichtert, da ich freier bin. Umso mehr freue ich mich auf die Ferientage mit den sechs Enkelkindern.»

Versöhnt mit der eigenen Geschichte und zufrieden mit dem, was sie hat und tun kann, nimmt sie das Leben, wie es kommt und meint: «Es liegt an uns, dem Leben seinen Wert zu geben.» Es ist ihr nie langweilig. «Ich könnte ewig nachdenken und bin unglaublich dankbar für die Schöpfung, für die Natur, für das Leben. In der Lawine habe ich erfahren, dass schlussendlich alles gut kommt und das Leben in der Liebe endet. Dieses Vertrauen möchte ich meinen Enkelkindern weitergeben.»

Wir verwenden Cookies und ähnliche Technologien, um das Nutzererlebnis auf unserer Website zu verbessern. Durch die weitere Nutzung dieser Website stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies und ähnlichen Technologien zu. Mehr erfahren