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Gewalt im Alter

Text: Barbara Bischoff und Monika Fischer


Seit Jahren wird darüber gesprochen, dass «Gewalt im Alter» eine Realität ist und verhindert werden muss. Das ist nur dann möglich, wenn wir uns bewusst sind, was als Gewalt von und an hilfebedürftigen Menschen empfunden wird. Die meisten Pflegeeinrichtungen sind für das Thema sensibilisiert. Trotzdem kann es zu Gewalt kommen, da diese zuerst gar nicht als solche wahr genommen wird. Gewalt kann von der Organisation ausgehen, von den Pflegenden, den Patienten und Patientinnen, aber auch vom Reinigungspersonal.

(Fortsetzung)

Ein Beispiel aus meiner früheren beruflichen Praxis: Ich erhielt vom Heim die Information, dass der Lernende XX sein Praktikum nicht mehr bei ihnen weiterführen könne, da er eine demente Patientin geschlagen hätte. Nach einigen klärenden Gesprächen mit dem Pflegepersonal und dem Lernenden stellte ich fest, dass der Lernende alleine mit zwei pflegebedürftigen, unruhigen Patientinnen in einem Zweierzimmer total überfordert war. Natürlich rechtfertigt diese Feststellung das gewalttätige Verhalten des Lernenden nicht. So musste zuerst geprüft werden, was organisatorisch dazu beitragen kann, um Gewalt von Pflegenden gegenüber Patientinnen und Patienten zu verhindern. Wie viel Gewalt wurde in ähnlichen Situationen angewendet, ohne dass die Vorgesetzten davon erfuhren? Die Dunkelziffer ist recht hoch.


Gewalt durch Überforderung

Im oben genannten Falle erarbeiteten wir gemeinsam Lösungsvorschläge. Es ist vorteilhaft, wenn für die Grundpflege zwei Mitarbeitende Hand in Hand arbeiten. Ich bin mir sicher, dass zwei Personen ruhiger und sanfter pflegen können. Die demente Patientin wird abgelenkt, wenn sie nicht mehr verstehen kann, was mit ihr gemacht wird und sie eine Körperpflege vielleicht als Übergriff empfindet. Der zeitliche Aufwand ist auch nicht unbedingt höher, als wenn die Pflege mühsam von einer Pflegeperson ausgeführt werden muss.
Auch ein unpassendes Verhalten eines Patienten gegenüber der Pflegenden findet manchmal statt. Dabei handelt es sich beispielsweise um sexistische Äusserungen, Betatschen oder Festhalten der Pflegenden. Oft sind davon junge Frauen betroffen. Auch das sind Übergriffe, die nicht geduldet werden dürfen.
Gewalt durch Überforderung passiert auch oft in Privathaushalten. Wie oft muss eine Mutter, kaum sind die Kinder etwas selbstständig, ihre eigenen Eltern oder Schwiegereltern unterstützen und pflegen. Oft «rutscht» sie einfach in diese Tätigkeit hinein. In den meisten Fällen sind es immer noch die Frauen, welche diese Carearbeit übernehmen. Ich habe manche Frauen erlebt, die diese Pflege übernommen haben mit der Hoffnung, endlich einmal von Mutter/Vater oder den Schwiegereltern dafür Anerkennung zu erhalten. Das ist meistens ein Trugschluss.
Bei überforderten pflegenden Angehörigen passiert Gewalt meistens sehr subtil: Indem nicht auf Rufe reagiert wird, der Gang zur Toilette verweigert wird mit dem Hinweis, dass sie/er ja Einlagen trage, das Essen lauwarm, oder nicht den Fähigkeiten angepasst serviert wird usw..
Das sind nur wenige Beispiele, die pflegebedürftige Menschen noch hilfloser machen und ihre Würde betreffen.

Das Thema immer wieder ansprechen

Was kann ich mit diesem Wissen als alte Frau tun, wenn auch ich einmal auf Hilfe anderer angewiesen sein werde? Es geht hier nicht einfach um ein TäterIn/Opfer Verhalten. Beide, also die Pflegenden wie auch die PatientInnen können Täter und Opfer sein. Ich weiss keine konkrete Lösung.
Wir haben in der Coronakrise erlebt, wie schwierig es ist, den Patientinnen und Patienten bei dauerndem Personalmangel eine gute Pflege zukommen zu lassen. Die Umsetzung der 2021 angenommenen Pflegeinitiative kann diese Probleme angehen. Aber es braucht noch viel mehr! Das Wichtigste ist, dieses Thema immer wieder anzusprechen, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass Gewalt im Kleinen beginnen kann. Das Thema geht alle Menschen an, denn wir alle möchten alle im Alter gut betreut und versorgt werden.

Hilfe holen statt wegschauen
Die unabhängige Beschwerdestelle Alter UBA
Jeder fünfte Mensch im Alter ist von physischer oder psychischer Gewalt betroffen. Dies geschieht oft dort, wo Angehörige und Pflegende überfordert sind. Die UBA springt ein, wo Menschen an Grenzen kommen. Sie klärt, vermittelt und schlichtet in Konfliktsituationen und bietet Hilfe für von Gewalt und Misshandlungen betroffene ältere Menschen
Die UBA ist ein politisch und konfessionell unabhängiger, gemeinnütziger Verein. Er setzt sich für ein selbstbestimmtes, würdiges Leben im Alter ein. Die meist pensionierten Fachpersonen bieten kostenlose Beratung, Vermittlung und Unterstützung in Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe bei Konflikten in den verschiedensten Bereichen wie Betreuung, Pflege, Wohnen, Finanzen, Krankenkasse, Familie.
Weitere Infos www.uba.ch und www.aneluege.ch, www.alterohnegewalt.ch

Gewalt im Alter enttabuisieren

Neben verschiedenen Organisationen wie die UBA in der Deutschschweiz befasst sich auch das Parlament mit dem Thema der Gewalt im Alter. Denn die Zahlen haben aufgeschreckt. Gegen eine halbe Million ältere Menschen erleben in der Schweiz jedes Jahr Formen von Gewalt und Vernachlässigung. Zu diesem Ergebnis kam der Bericht «Prävention von Gewalt im Alter», der im Auftrag des Parlaments erstellt wurde. Deshalb beauftragte der Bundesrat im Herbst 2020 das Departement des Innern, den Bedarf für ein Impulsprogramm gegen Gewalt im Alter abzuklären. In der Corona-Pandemie nahm die Luzerner Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler den Faden wieder auf. Am 15. Juni 2021 reichte sie eine von 78 Ratsmitgliedern unterzeichnete Motion für die Realisierung eines Impulsprogrammes mit Fokus auf Betreuung ein mit folgender Begründung: «Gewalt im Alter führt zu viel Leid und ist eine grosse Belastung für alle betroffenen Stellen. Gleichzeitig bleibt es ein gesellschaftliches Tabu. Wie stark fragile ältere Menschen auf die Unterstützung von Dritten angewiesen sind, hat die Corona-Pandemie in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Betreuungsangebote können einen wesentlichen Beitrag leisten, um der Isolation älterer Menschen entgegenzuwirken und Angehörige zu entlasten.»





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