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Das Ende einer phallischen Metapher

Ich war noch nie ein Fan von Stammbäumen. Sie sind Männersache. Frauen erscheinen darin nur als Staffage. Die Linie der Männer wird weitergezogen, die Frauen verlieren sich, nachdem sie ihre Aufgabe des Kindergebärens erfüllt haben. Er diente in der Vergangenheit vor allem zur Erb- und Nachfolgeregelung. Jetzt ist dem Stammbaum der Untergang angesagt. Und ich bin nicht unglücklich darüber

(Fortsetzung)

In meiner Familie und derjenigen meines Mannes existieren Stammbäume. Immer waren es engagierte Männer, die sie mit viel Fleiss und Akribie verfasst und weitergeführt haben. Manchmal wurden wir Frauen aufgefordert, den jeweiligen Stammbaum zu ergänzen oder angefragt, ob wir den Namen, ein Datum oder sonst etwas von einer Person wüssten. Ich schaute dieser Arbeit mit Skepsis zu. Begeistert war ich nie, denn mit mir als Frau hatte diese Ahnenforschung nie etwas zu tun.

Altehrwürdige Familien mit Stammbaum
Früher waren es vor allem die altehrwürdigen, adeligen Familien, die einen Stammbaum pflegten. Mit dem Bürgertum widmeten sich reiche Familien ebenfalls diesem Hobby: Von Wattenwyl, Vischer, Graffenried, von Segesser, von Pfyffer… Bis schliesslich in der modernen Welt auch ganz gewöhnliche Familien anfingen, Ahnenforschung zu betreiben. So kamen auch gewöhnliche Familien wie die meine und die meines Mannes zu Stammbäumen. Nachdem wir drei Töchter bekamen, fiel meine Begeisterung für Stammbäume ganz auf null.

Für die Regelung männlicher Vormacht
«Der Stammbaum und die mit ihm verwandten Ahnentafeln folgen den Prinzipien von Patrilinearität und Primogenitur: Auf dem dicken Stamm, der den Namen des Urvaters trägt, wachsen seitlich und nach oben sich verjüngende Äste und Zweige mit vielen Nachfahren. Verzeichnet sind nur die männlichen Nachkommen des ersten Ehepaars, und die Erstgeborenen werden jeweils zuerst aufgeführt», schreibt Urs Hafner in der NZZ am Sonntag. Er bezeichnet den Stammbaum auch als «phallische Metapher», in der das Weitergeben des Samens versinnbildlicht sei. Frauen und der Rest der Familie bleiben unerwähnt. Ausgeblendet waren auch aussereheliche Kinder oder Zweitfrauen. Mit der Realität der Familienformen hatten Stammbäume nie etwas zu tun. Mit ihnen wurde nichts anderes als patriarchale Ordnungspolitik betrieben oder die männliche Erb- und Nachfolge geregelt.

Das Ende naht
Als meine Enkelin vor einem Jahr den Familiennamen meiner Tochter erhielt, fragte ich mich, wie das wohl im Stammbaum abgebildet werde. Plötzlich werden Mädchen zu Namensträgerinnen einer Familie. Ja, und was ist mit Adoptionen, was mit Namen von Migranten, die hier heiraten? Wie soll in den Ahnentafeln das neue Namensrecht aufgenommen werden?

Der Stammbaum sei vor dem Aus, sagt Urs Hafner. Er könne die sich wandelnden Familienformen nicht länger bewältigen. Er beschreibt zwei Möglichkeiten, die Genealogie in Zukunft abzubilden: die Ahnenforscher machten weiter bis anhin und entfernten sich noch weiter von der Realität. Oder sie versuchten die modernen Gegebenheiten zu integrieren und würden dabei die Übersicht verlieren. Zusammengefasst: Die neuen Realitäten passen nicht länger ins System. Der Stammbaum wird nicht überleben. Für mich ist das ok. Ich verliere keine Träne darüber.

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