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Gönne dir täglich etwas, das dich freut

Hanne Müller, Pionierin der Behindertenbewegung, hat mit ihrem Schicksal nie gehadert.
Hanne Müller, Pionierin der Behindertenbewegung, hat mit ihrem Schicksal nie gehadert.

Im anregenden Gespräch mit Hanne Müller (74) über Gott und die Welt verliert alles Äusserliche seine Bedeutung. Vielseitig interessiert, hält sie sich über Zeitungen und Fernsehen auf dem Laufenden und mischt sich bei Bedarf engagiert ein. Sie schätzt die Freiheit, das Leben selber zu gestalten und ist dankbar für alles, was sie trotz körperlicher Behinderung erreichen konnte. Als religiöser Mensch hat Hanne Müller mit ihrem Schicksal nie gehadert und Kraft aus dem Glauben gefunden. Ebenso wichtig ist für sie, im Leben einen Sinn zu sehen. «Es muss doch einen Sinn haben, dass ich trotz anderer Prognosen so alt wurde. Es muss etwas geben, das gerade ich erfüllen muss auf dieser Welt. Zu erkennen, was es ist, gibt mir Energie und Freude, das Leben mit allen Schattierungen zu leben.»

(Fortsetzung)

Mobilität für alle
Der Leitspruch «Gönne dir täglich etwas, das dich freut», begleitet sie seit Jahrzehnten. «Dass ich ein froher Mensch bin, hängt mit meinem momentanen Leben zusammen. Ich bin dankbar, dass ich jeden Tag selbstständig aufstehen und den Tag im Rahmen meiner Möglichkeiten selber gestalten kann. Seitdem ich nicht mehr berufstätig bin und meine Kraft auf das für mich Wesentliche konzentrieren kann, habe ich mehr Lebensqualität.» Lebensfreude ist für Hanne Müller auch mit der Freiheit verbunden, Interessen zu pflegen, Kultur und Konzerte zu besuchen, Musik zu geniessen. «Deshalb braucht es einen Behindertenfahrdienst von Tür zu Tür für jene Betroffenen, welche den ÖV nicht oder nur eingeschränkt benutzen können», fordert sie energisch.

Allein, aber nicht einsam
Es stört sie nicht, oft allein zu sein, im Gegenteil. «Wenn ich ganz zurückgeworfen bin auf mich selber, kann ich die schöpferischen Kräfte entfalten und auftanken. Zudem studiere ich über vieles nach und freue mich darauf, mich bei Gelegenheit mit andern auszutauschen.» Grosse Bedeutung haben für sie die Fernsehapparate in der Stube und im Schlafzimmer. «Dank dem Fernsehen bekomme ich Infos aus aller Welt und fühle mich mit ihr verbunden.»

Wertvoll im Sosein
Hanne Müller ist mit der seltenen Erbkrankheit Osteogenesis Imperfekta, kurz O.I. oder Glasknochenkrankheit, geboren. Charakteristisch dafür sind eine erhöhte Knochenbrüchigkeit sowie zum Teil starke Skelettdeformierungen und Kleinwuchs.

Dass sie im Strassenbild auffällt, stört sie nicht. «Der optische Eindruck irritiert die Leute oft. Das verschwindet, wenn ich sie anspreche und wir uns von Mensch zu Mensch begegnen.»

Obwohl sie bis zur Pubertät rund 50 Brüche hatte, blickt sie auf eine glückliche Kindheit zurück. «Von den Eltern und der Umgebung wurde ich akzeptiert, so, wie ich bin. Das Gefühl, wertvoll zu sein, war die Grundlage für mein Selbstbewusstsein.» Von einer Lehrerin wurde sie drei Stunden pro Woche zuhause unterrichtet. Dazu kamen Klavierstunden und Religionsunterricht durch die Pfarrei. Der Vater brachte sie für den Besuch der 3. Sek in eine private Mädchenschule. Sie absolvierte sogar das hauswirtschaftliche Obligatorium für Mädchen, wobei sie die Nähmaschine mit den Knien betätigte. Doch bedauert sie: «Angesichts der geringen Lebenserwartung von 40 Jahren wurde ich wohl später zu wenig gefördert. Die Eltern wollten mir einfach ein schönes Leben ermöglichen.»

Krisen als Chance
Hanne Müller ist überzeugt von der Bedeutung von Krisen für die Entwicklung. Ihre grösste Krise erlebte sie in der Pubertät, ausgelöst durch die Trennung der Eltern. «Es zeigte mir, dass eine Familie nicht alles ist. In dieser Zeit fühlte ich mich sehr allein. Gespräche mit anderen Menschen und die «Pfadi trotz allem» halfen mir, meinen eigenen Weg zu gehen und mich über Hindernisse hinwegzusetzen. Zum Beispiel das Autofahren zu erlernen, war doch die Mobilität eine Voraussetzung für meine Selbstständigkeit.» Bei der Abklärung fertigte sie der zuständige Arzt mit den Worten ab, das gehe nicht, sie sei eine Gefahr für den Strassenverkehr. Sie setzte sich durch und schaffte die Prüfung spielend. Auch sonst musste sie sich zeitlebens wehren. «Manche Menschen trauten mir nicht zu, dass ich vieles selber erreichen kann.»

Geschätzte Mitarbeiterin
Nach Ausbildungen an Handelsschulen arbeitete sie an verschiedenen Stellen als kaufmännische Angestellte. Besondere Befriedigung gab ihr die siebenjährige Tätigkeit im Kliniksekretariat am Kinderspital Luzern. «Die Konfrontation mit den verschiedenen Schicksalen von Eltern und Kindern motivierten mich, noch die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu machen.» Nachdem sie an der Tagesschule nicht aufgenommen worden war, versuchte sie es erfolgreich ein zweites Mal mit der berufsbegleitenden Abendschule. «Ich musste mich immer mehr beweisen als andere, was die meisten SchicksalsgefährtInnen kennen.»

Bei ihrer langjährigen Tätigkeit als Sekretärin und Sozialarbeiterin bei der katholischen Behindertenseelsorge war sie zuständig für den Aufbau und die Organisation von Kursen und Tagungen für geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche und engagierte sich in der Öffentlichkeitsarbeit. Als Frau mit Behinderung doppelt handicapiert, setzte ihr der Arbeitsstress mehr und mehr zu. Dies führte 1989 zur Frühpensionierung. Mit einer Restarbeitsfähigkeit von 20 bis 30 % musste sie sich neu orientieren, was manche Türen öffnete.

Pionierin in der Behindertenbewegung
In den letzten 50 Jahren engagierte sich Hanne Müller freiwillig in den verschiedensten Fach- und Arbeitsgruppen für Behindertenfragen. Von einer Frauengruppe wurde sie in den 90er-Jahren angefragt, im Bereich der Selbsthilfe etwas für behinderte Frauen zu unternehmen. «Die Lage vieler behinderter Frauen war damals vor allem für Alleinstehende sehr schlecht. Viele hatten keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit. Sie fühlten sich einsam und überflüssig und hatten keine Kraft mehr, um für bessere Verhältnisse zu kämpfen. Nach einigen Jahren organisierte die Gruppe Ende der Neunzigerjahre die erste Frauenkonferenz. Die über 90 anwesenden Frauen mit einer Behinderung wünschten am Schluss der Tagung eine Anlaufstelle speziell für behinderte Frauen. 2002 gründete die Frauengruppe den gemeinnützigen Verein avanti donne, ein von Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Kreativität geprägtes Netzwerk von und für Frauen mit einer Behinderung. Am 8. März, dem Tag der Frau, eröffnete Hanne Müller zusammen mit zwei weiteren Initiantinnen die Kontaktstelle von avanti donne. Fünf Jahre arbeitete sie als Co-Leiterin der Geschäftsstelle zuerst freiwillig, dann in einem 20 %-Pensum. «Alles via Mail und Telefon mit einzelnen Tagungsangeboten. Wir wurden mit einer unglaublichen Fülle von Fragen konfrontiert. Die Frauen hatten Mühe mit Versicherungen, Behörden, Institutionen, oder sie hatten Wohnprobleme. Viele litten darunter, trotz IV-Rente unter dem Existenzminimum leben zu müssen und waren von Altersarmut bedroht. Erschreckend viele kannten weder ihre Rechte, noch waren sie über das grosse Netz von Beratungs- und Dienstleistungsangeboten informiert. Es ging in erster Linie darum, zuzuhören und eine Triage zu machen. Es erfüllt mich mit Freude, dass nach meinem fünfjährigen intensiven Einsatz der Verein seit 17 Jahren weiterbesteht und heute eine wichtige Rolle in der Schweizerischen Selbsthilfe spielt.»

Selbständiges Wohnen
Seit 45 Jahren wohnt Hanne Müller selbstständig in einer baulich angepassten Wohnung. Während sie die Körperpflege dank Hilfsmitteln weitgehend selber besorgt, ist sie bei der Wohnungspflege, Wäsche und Entsorgung auf Hilfe durch die Spitex und durch Nachbarn angewiesen. Sie hat keine Mühe, Hilfe anzunehmen, ist sie doch seit Geburt darauf angewiesen. Jedoch kämpft sie mit anderen Betroffenen gegen eine weit verbreitete Haltung von Nichtbetroffenen, die oft meinen, besser zu wissen, was für sie gut ist. Hilfe heisst für sie Assistenz bei Tätigkeiten, die sie selbst nicht ausführen kann.

Selbstbestimmung bis ans Lebensende
Ihre verhältnismässig gute Gesundheit führt Hanne Müller auf die Einnahme von Bisphosphonaten, Medikamenten zur Reduzierung des Knochenabbaus, seit rund 25 Jahren zurück. Trotz Beschwerden wie Atmungsproblemen sorgt sie sich nicht um sich, sondern um die Zukunft der nächsten Generationen. Sie ärgert sich über kurzsichtige politische Entscheide, das Sparen auf dem Buckel der Schwächsten, das Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich und meint: «Es müsste doch das Ziel von Gesellschaft und Politik sein, allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen.» Obwohl ihr Alltag mühsamer geworden ist und von ihr viel Disziplin abverlangt, fürchtet sie das Älterwerden nicht. «Ich kann auf so viel Gutes zurückschauen und zehre von dem, was ich gemacht und geleistet habe, zum Beispiel von meinen Reisen.» Sie hofft, bis ans Lebensende in der Wohnung bleiben zu können und würde notfalls jemanden anstellen, wäre doch die Pflege in einem Heim wegen ihrer Behinderung ein Risiko. Zuversichtlich schaut sie vorwärts und meint zufrieden: «Ich geniesse jeden Tag, einfach zu sein.»

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