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Zwischen Projektarbeit und der Weite der Mongolei

Nach 12 überaus erfolgreichen Jahren als Projektleiterin verabschiedet sich Anette Stade am 30. September 2022 von der GrossmütterRevolution.
Nach 12 überaus erfolgreichen Jahren als Projektleiterin verabschiedet sich Anette Stade am 30. September 2022 von der GrossmütterRevolution.

Text und Foto: Monika Fischer

Die ersten zwölf Jahre der GrossmütterRevolution sind untrennbar verbunden mit der Projektleiterin Anette Stade (55), die geschickt alle Fäden zusammenhielt. Dies hat sie früh geübt, ist doch ihr Leben geprägt durch Migrationserfahrungen in der Kindheit und frühe Selbständigkeit. Kompromisslos suchte sie lange nach dem passenden Beruf – und fand den Frauenausweg: Sie wurde schwanger und ist heute vierfache Mutter und Grossmutter von Freya. Nach dem Studium in soziokultureller Animation an der heutigen Fachhochschule HSLU in Luzern bildete sie sich stets weiter, sammelte Erfahrungen in verschiedenen Projekten und baute ein eigenes Geschäft auf. Fasziniert von der Weite der Mongolei und der traditionellen Heilkunst der Schamaninnen und Schamanen, bietet sie mit ihrem Team Reisen in dieses Land an.

(Fortsetzung)

«Unsere Familie ist lange jeweils dem Beruf des Vaters nachgezogen, das merke ich im Rückblick», lacht Anette Stade. Als Wunschkind der Eltern in München geboren, fuhr die Familie fünf Monate später nach New Jersey, wo der Maschinenbauingenieur ein Postdoc-Programm besuchte und Maschinen für die Kunstoffindustrie entwarf. Doch die Eltern fühlten sich in den USA nicht wohl und kehrten drei Jahre später nach Deutschland zurück. Nach weiteren drei Jahren in Frankfurt zogen sie im Sommer 1973 in die Region Basel. «Das viele Zügeln und die anderen Sprachen - Schweizerdeutsch war für mich eine fremde Sprache - haben mich geprägt. Zwar lebten wir gutbürgerlich und waren nicht von Armut betroffen. Und doch habe ich als Kind die ganze Fremdenfeindlichkeit erlebt und wurde auch mal verprügelt, weil ich zwar nicht wie die Italiener, aber doch anders komisch gesprochen habe. Das gab mir das Gefühl, alles, was ich mache, ist falsch. Ich wusste nicht warum und fühlte mich entwurzelt.»

Früh selbständig
Die Eltern fanden die staatliche Schule grässlich und schickten die Tochter in eine Steinerschule. Ohne die Anthroposophie zu kennen, dachten sie, es sei die bessere Pädagogik. Dadurch lebte Anette in Nachbarschaft mit Kindern, die eine andere Schule besuchten. Dies gab ihr zusätzlich das Gefühl, nicht verwurzelt zu sein. «Ich hatte aber eine gute Kindheit, meine Eltern haben mich herbeigesehnt. Das gab mir das Gefühl, die Welt habe auf mich gewartet. Oft arbeitete ich mit meinem Vater in der Werkstatt. Er war immer stolz auf mich. Ich wurde als Mädchen gleichwertig behandelt wie mein Adoptiv- und mein 11 Jahre jüngerer leiblicher Bruder.»
Als sie sich in der Pubertät langsam abnabeln wollte, konnte dies die Mutter nicht verkraften. «Sie war nicht fähig, mich gehen zu lassen.» Als der Konflikt anderthalb Jahre vor Schulabschluss eskalierte, wurde sie von der Mutter vor die Wahl gestellt: «Entweder gehorchst du, oder du ziehst aus.» Da zog sie aus, bevor sie volljährig war.

Einzige Zeit im Leben mit Hunger
Sie erzählt, wie sie für 50 Franken in einem Zimmer im Haus eines Kollegen wohnte. Von den Eltern bekam sie im Monat 300 Franken. Da dies nicht ausreichte, arbeitete sie neben der Schule. «Zweieinhalb Jahre habe ich im anthropologischen Institut, das sich im Keller des Gefängnisses befand, Knochen gewaschen. Manchmal klauten wir auch Schoggi und Butter, wenn wir Brot kauften. Es war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich manchmal hungerte.» Mit 19 wechselte sie den Job und machte Nachwache in der Geriatrie. «Nach
strengen Nächte wachte ich manchmal in der Schule auf, wenn der Lehrer den Schlüsselbund auf mein Pult warf. Ich bin klar zu früh von Zuhause ausgezogen und wollte das nicht für meine Töchter.»
Nach 12 Schuljahren wusste sie nicht, was sie machen könnte: «Es ist der Fluch der vielseitig begabten Kinder.» Jetzt kümmerte sich der Vater wieder um sie und brachte sie jeden Morgen zum Arbeitsamt. «Er wollte, dass ich eine Stelle finde, bis ich wusste, was ich lernen wollte. Sie bekam noch mehr Stress und flog mit 20 Franken nach London, wo sie ein halbes Jahr bei Bekannten, dem Arbeitslosengeld und mit Checks der Post in der Hausbesetzerszene lebte.

Schwangerschaft als Ausweg
«Bei der Arbeit in einer Fabrik kam ich angesichts der Arbeitsbedingungen auf die Welt. Ich lernte Leute ohne jegliche Perspektive kennen und wusste: Bei mir ist das anders, ich habe Möglichkeiten.» Sie kehrte in die Schweiz zurück und wollte Goldschmiedin werden. Bei der Suche nach einer passenden Lehrstelle erfuhr sie durch die Bemerkung «als Frau werde sie ja doch heiraten und dann aus dem Beruf gehen» erstmals die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Bei einer psychologischen Beratung wies sie die Psychotherapeutin auf eine Praktikumsstelle in einer Wohn- und Therapiegemeinschaft hin. Anette begann berufsbegleitend eine Ausbildung in Sozial- und Gestalttherapie und arbeitete viel mit Kunst und -therapie. Als ihr der nächste Ausbildungsschritt in Heilpädagogik nicht zusagte, suchte sie nach einem Ausweg – und wurde schwanger. Mit 23 bekam sie ihre erste Tochter: Zoe. Damit ihr Partner seine Ausbildung abschliessen konnte, entschied sie sich, zuhause zu bleiben und nach seinem Abschluss wieder einen Berufsabschluss in Angriff zu nehmen. «Wir wohnten in Arlesheim, hatten kein Geld, tranken im Ausgang zusammen ein einziges Bier. Anderthalb Jahre später bekam ich die zweite Tochter: Ronja. Nach dem Studienabschluss des Partners arbeitete dieser 20% und betreute die Kinder, damit ich an der HSLU studieren und berufsbegleitend in einem Arbeitslosenprojekt arbeiten konnte.»

Angekommen
Nach jahrelangem Zusammenleben heirateten die Eltern – und liessen sich ein Jahr später mit geteiltem Sorgerecht für die Kinder wieder scheiden. Um möglichst günstig zu wohnen, zog Anette in ein besetztes Haus in Basel. Die Töchter wurden vier Tage in der Woche vom Vater betreut und kamen am Wochenende zu ihr.
Im letzten Studienjahr (1998) lernte sie an der Fasnacht Alex kennen. «Er half mir bei unserer Projektarbeit, bei der wir sogar einen Preis gewannen. Mein Leben wurde nun viel ruhiger. Alex ist meine grosse Liebe bis heute. Wenn zwei Menschen sich die Hand reichen, kann sich potenzieren, was man macht und toll findet. Das ist wunderbar.»
Direkt nach ihrem Abschluss holte das Paar die Töchter zu sich, und die Familie zog in ein grosses Haus in Hegenheim in Frankreich, nahe der Schweizer Grenze. 2001 wurde Sofie, 2004 Thora geboren. Das Leben zwischen der Schweiz und Frankreich wurde immer komplizierter. Deshalb zogen sie nach sieben Jahren in eine Familiensiedlung in Allschwil.
«Ich hatte mit Alex abgemacht, dass wir uns die Erwerbs- und Familienarbeit teilen. Wir fanden immer wieder gemeinsam eine Lösung, die für beide stimmte, auch wenn das nicht immer einfach war und wahnsinnig viel gute Planung von uns verlangte», meint Anette Stade rückblickend. Während ihr Partner seinen Berufsweg vom selbständigen Zimmermann über die Arbeitsagogik bis hin zum Sekundarlehrer zurücklegte, entwickelte Anette erfolgreich verschiedene Projekte, was ihrer Karriere Aufschwung gab. Dazu gehörte im Auftrag der Sozialhilfe Basel «Die Stadthelfer» für langzeitarbeitslose Menschen, die als Freiwillige vermittelt wurden. «Es war damals ein neuer Ansatz, Sozialhilfebezüger nicht unter Druck zu setzen und ihnen dennoch die soziale Teilhabe zu ermöglichen», erklärt sie und ergänzt mit leisem Stolz: «Das Projekte wurde vom Sozialamt Zürich und in anderen Kantonen adaptiert.

Sensibilisiert für Frauenrechte
«Ich gehöre zur Generation, die fand, Feminismus ist gut und recht, doch sei er jetzt nicht mehr so wichtig, da ja alles aufgegleist sei und immer nur noch besser werde», meint Anette und erzählt von ihren verletzenden Schlüsselerlebnissen. Als junge Mutter von zwei Kindern wollte sie in Aarau Sozialarbeit studieren. Beim Einzelgespräch mit dem Rektor meinte dieser im Hinblick auf ihren Lebenslauf, sie könnte doch erst einmal etwas fertigmachen, die nächsten zehn Jahre daheimbleiben und ihre Kinder erziehen. «Diese Begegnung hat mich total verletzt und pulverisiert. Wie ich damals erleben viele Frauen noch heute die Chancenungleichheit, wenn sie sich Kinder wünschen oder als Mütter wieder ins Berufs- und Ausbildungsleben einsteigen wollen.»
Sie fand zudem, das Studium in soziokultureller Animation sei viel interessanter und kreativer. Ein Jahr später wies sie der Dozent beim Aufnahmegespräch an der HSLU auf ihre zwei Kinder im Lebenslauf hin und wie sie das denn mit der Betreuung organisieren werde. «Ich machte nicht mehr die Faust im Sack und sagte, ob er bei männlichen Bewerbern diese Frage auch stelle. Er gab mir recht und nahm die Frage zurück.»
Sie schildert ein weiteres Erlebnis, das die Anliegen der neuen Frauenbewegung auch zu den ihren machte. «Beim ersten grossen Frauenstreik 1991 war ich schwanger mit der zweiten Tochter und lief in Basel über den Theaterplatz. Ich war 25, hatte extrem wenig Geld und war daheim versackt. Da badete ich in der Energie dieser vielen Frauen mit dem Slogan «Wenn frau will, steht alles still» und spürte: Das Leben hat mich wieder.» Dieser «emanzipatorische Crashkurs» führte dazu, dass sie sich für Frauenprojekte und insbesondere für benachteiligte Frauen einsetzte, zum Beispiel beim Aufbau des Studienprojektes «Lernen im Park» mit seiner Geh-Struktur für Migrantinnen.

Selbstbewusste Macherin
Anette Stade zählt die zahlreichen Projekte auf, die sie aufgebaut hat. Sie hatte immer wieder neue Ideen. Oft war es ein Learning by doing: «Ich musste mich hineinknien, viel lesen und mich ständig weiterbilden, um mir das nötige Fachwissen anzueignen und wurde mit zunehmender Erfahrung mutiger. Wenn mir auch im Leben nicht alles gelungen ist, hatte ich doch genügend Selbstvertrauen und ein starkes Rechts- und Unrechtsempfinden.» Bei der Arbeit für die Merian Stiftung in Basel konnte sie ihr Netzwerk ausbauen. «Es war ein Traumjob, Projekte zu ermöglichen und zu finden. Die Arbeit gefiel mir extrem gut, wurde jedoch menschlich schwierig. » Die Situation wurde so belastend, dass sie die Stelle kündigte, auch wenn ihr das damals sehr schwer fiel.
2009 machte sie sich selbständig und gründete ihre eigene Firma (kaito.ch). «Ich hatte ein grosses und gutes Netzwerk und verschiedene, ehemalige Arbeitgeber buchten mich als Freelancerin. So holte mich Heinz Altdorfer für das Projekt GrossmütterRevolution, mein grösstes Mandat in den letzten 13 Jahren und das letzte, das ich auch operativ führe.» Sie schrieb viele Konzepte, z.B. für die Offene Kirche in Basel, für Sans-papiers, machte unzählige Bedarfsanalysen mit Handlungsempfehlungen oder begleitete Hilfswerke im Leitbildprozess. Daneben hatte sie auch verschiedene Lehraufträge. An der Fachhochschule Nordwestschweiz unterrichtete sie Kommunikation und Beratung, an der HSLU unternehmerisches Handeln.
Aktuell ist sie im Auftrag der HSLU und in Zusammenarbeit mit Swisscontact an einem internationalen Coaching-Projekt beteiligt, das sie in Kontakt mit verschiedenen Ländern und Kulturen bringt.

Jangar-Reisen
Neben der bodenständigen Arbeit als Projektentwicklerin und Teamcoach lebt Anette Stade auch eine andere Seite. Sie erzählt, wie sie vor 20 Jahren nach langer Suche in der spirituellen Welt des Schamanismus ihre Heimat gefunden hat. Unter anderem besuchte sie bei Carlo Zumstein Intensivseminare, bildete sich stets weiter und nahm an schamanischen Reisen in die Wüste und in die Mongolei teil. Auf die entsprechende Frage zeigt sie auf: «Es geht im Schamanismus um die Verbundenheit zu allem, was ist und darum, diese Verbindung zum Wohle der andern zu beeinflussen, indem bei einer Disharmonie mit Heilritualen die Energien verändert und die Harmonie wieder hergestellt wird. Es ist das Ergebnis hoher Zivilisation, dass wir viele natürliche Zugänge zur nichtmateriellen Welt verloren haben und nun versuchen, wieder einen (modernen) Zugang zu finden.» Anschaulich beschreibt sie die zwei Wochen, in denen sie 2019 mit einer Schamanin in der Mongolei unterwegs war: «Es war ein Geschenk des Universums, dass wir durch die Schulung des Wahrnehmungsvermögens in der nichtmateriellen Welt dasselbe sehen und einander schamanische Heilrituale beibringen konnten. Seitdem ich ihre Assistentin heilen konnte, wird mein Wirken auch in der Mongolei anders gesehen. Diese gemeinsame Arbeit ist für mich ein grosses Geschenk.»
Seit fünf Jahren organisiert Anette Stade mit ihrem Team verschiedene, den persönlichen Bedürfnissen angepasste Familien- und Gruppenreisen sowie schamanische Treckingreisen in die Mongolei (Siehe jangar-reisen.ch) Sie schätzt das Verständnis und auch die Ermutigung ihres Partners, stets ihren Weg zu suchen und zu gehen, dank dem sie ihre verschiedenen Interessen mit Beruf und Familienarbeit unter einen Hut bringen konnte.

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