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Meine unbekannte Grossmutter

Meine Enkel wollen oft, dass ich von früher erzähle. „Wie hast du deiner Grossmutter gesagt? Auch Nana?“ fragte mich der Kleine. „Nein, weisst du, ich habe meine Grossmutter gar nicht gekannt!“ Natürlich wollten sie wissen, wie das möglich ist, dass man eine Grossmutter gar nicht kennt. Ich bin dann sehr ins Nachdenken gekommen.
Meine Grossmutter wurde 1877 geboren und hiess Ida. Sie heiratete meinen Grossvater mit 24 Jahren und bekam alle zwei Jahre ein Kind. Mein Vater war das achte Kind und ist 1917 geboren. Da war Ida genau 40 Jahre alt und sicher hat sie sich kein Kind mehr gewünscht. Damals konnte eine Frau noch nicht selber entscheiden, wie viele Kinder sie haben möchte. So gab es eben noch ein achtes Kind. Und das war eine Tragödie, denn meine Grossmutter starb bei der Geburt meines Vaters.
Der Vater – mein Grossvater – war völlig überfordert und die Behörde verdingte alle acht Kinder. Mein Vater traf es gut, er kam zu lieben Pflegeeltern, die ihn wie ein eigenes Kind aufzogen, die andern hatten zum Teil weniger Glück.
Nun sind es genau 100 Jahre, seit meine Grossmutter gestorben ist. Ich habe nur ein ganz kleines Bildchen von ihr, vom Grossvater gibt es gar keines. Ich weiss auch fast nichts von meiner Grossmutter. Sie kam anscheinend aus dem Zürcher Unterland ins Baselbiet, was damals wohl eher selten war. Und dann hat mir meine älteste Tante erzählt, dass ihre Mutter immer gerne gelesen habe. Sie hätte oft am Herd gestanden, mit einem Buch in der Hand. Und dann sei die Rösti angebrannt oder die Milch übergelaufen. Das machte mir Eindruck. Ich lese selber sehr gerne – ob ich das
von meiner unbekannten Grossmutter geerbt habe? Sie wurde mir dadurch sehr sympathisch.
Sie hat nicht erlebt, wie ihre Kinder gross geworden sind, die 15 Enkelkinder haben ihre Grossmutter nie gesehen. Meine Tanten und Onkel und mein Vater hatten lebenslang guten Kontakt miteinander, obschon sie an verschiedenen Orten aufgewachsen sind und es zum Teil sehr schwierig hatten. Je älter ich werde, desto mehr denke ich auch an meine Herkunft und möchte sie für meine Kinder und Enkel aufschreiben.
Dazu gibt es noch ein Erlebnis aus dem letzten Sommer. Wir waren in der Mongolei in den Ferien und wanderten mit einer Gruppe weit durch die Einsamkeit dieses Landes. Jeden Tag waren 3-4 Stunden Wanderzeit vorgesehen. Schon am zweiten Tag taten mir die Füsse an den Fersen weh. Ich salbte sie ein, nahm Tabletten, aber nichts half wirklich. Da träumte ich in der Nacht im Zelt von meiner unbekannten Grossmutter. Sie lächelte mich an und sagte: „Du musst halt kleinere Schritte machen!“ Daran hielt ich mich am nächsten Tag und die Schmerzen verschwanden vollständig.
Das erzählte ich meinen Enkeln und der Achtjährige meinte: „Aber sie hat dich doch gar nicht gekannt!“

© 2019 Hanna HInnen

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