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Mutterersatz für schutzbedürftige Kinder

Über den Computer pflegt die 85-jährige Pia Stirnimann den Kontakt mit Peru.

Bild und Text: Monika Fischer

«Ich habe mindestens fünfzig Kinder», antwortet Pia Stirnimann lachend auf die Frage nach ihrer Familie. Noch ein letztes Mal wird sie ihre Grossfamilie besuchen. Sie hat in dem von ihr gegründeten Hilfswerk noch einiges zu erledigen. Trotz gesundheitlicher Probleme könne sie die lange Reise nach Peru verantworten. Dies hat ihr der Arzt zugesichert. Schon früh wusste Pia Stirnimann: Sie wollte weder heiraten noch eigene Kinder haben. «Ich wollte vielmehr Mutter sein für Kinder, die keine haben.» Unbewusst richtete sie ihr Leben ganz auf dieses Ziel aus. Mutig, energisch, beharrlich und engagiert packte sie jede neue Aufgabe an.

(Fortsetzung)

Als mittleres Kind mit drei Schwestern und einem Bruder in Horw aufgewachsen, lernte Pia Stirnimann früh, sich zu wehren. «Ich habe mich in meinem Leben immer behauptet.» Musik und eine gute Bildung waren in der Familie wichtig. Die Mädchen sangen im Trachtenchor und jeden Morgen im Gottesdienst auch im Kinderchor. Obwohl sie leicht lernte, hatte sie nach der obligatorischen Schulzeit genug vom Unterricht. Eigenständig ging sie ihren Weg. Je ein halbes Jahr arbeitete sie als Dienstmädchen in der Westschweiz und in Chiasso, lernte Französisch und Italienisch. Unterdessen hatte sich ihr Berufswunsch herangebildet. Lehrerin wollte sie werden, nicht in einer Regelschule, sondern für junge Mädchen in einer schwierigen Lebensphase. Deshalb liess sie sich zur Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerin sowie zur Erwachsenenbildnerin ausbilden. Auf einer Beobachtungsstation für pubertierende Mädchen aus schwierigen Verhältnissen unterrichtete sie die Fächer Gartenbau und Hauswirtschaft. Durch gute Beobachtung und intuitives Handeln habe sie wohl manches richtig gemacht, denkt sie rückblickend.

Hinsehen und Zuhören
Sie spürte, wenn eine Arbeit für sie nicht mehr stimmte und sie weitergehen musste. Nach einigen Jahren Unterricht studierte sie Heilpädagogik in Zürich und unterrichtete dort lernbehinderte Mädchen in Hauswirtschaft. Erschöpft durch die zusätzliche Pflege einer an MS erkrankten Freundin fuhr sie nach Madrid. Mit dem Spanischdiplom in der Tasche machte sie in Wien eine Ausbildung zur Entwicklungshelferin und fuhr mit dem Schiff nach Ecuador. Bei ihrem ersten Einsatz leitete sie ein SOS-Dorf in Quito. Sie packte ihre Aufgabe mit Respekt vor der Situation der Menschen vor Ort an. Es war ihr wichtig, gut hinzusehen und zuzuhören. Immer wieder musste sie sich wehren gegen Europäer, «die sich wie Kolonialherren benahmen und alles besser wussten». Deshalb erneuerte sie den Vertrag nicht und kehrte in die Schweiz zurück.

Andere motivieren und stärken
Sie wurde Leiterin einer Schule, die im Auftrag der IV lernbehinderte Mädchen in der Hauswirtschaft auf die Eingliederung vorbereitete. Als Vorstandsmitglied des Schweizerischen Werkstättenverbandes organisierte sie zudem Ausbildungen in der ganzen Schweiz, hielt Referate und führte Ausbildungen für das Personal an IV-Berufsschulen durch. Bei ihrer Führungsarbeit war ihr neben Transparenz und Bereitschaft zur Kritik auch wichtig, anderen den Rücken zu stärken, Verantwortung zu übergeben und die Menschen für ihre Arbeit zu motivieren. Die vielseitige Tätigkeit gefiel ihr; sie wurde mit ihrer Klarheit, Fachkompetenz und ihrem Durchsetzungsvermögen respektiert und geschätzt. Doch war die Arbeitsbelastung enorm. Deshalb suchte sie nach zehn Jahren wieder eine Aufgabe in Südamerika und fand diese in Peru.

«Ich hatte meine Aufgabe gefunden»
Bei ihrer Arbeit in einem SOS-Dorf konnte sie ein Frauengefängnis besuchen. «Was ich antraf, war unbeschreiblich. In dem für 400 Personen gebauten Gefängnis lebten 1200 Frauen, viele davon mit ihren Kindern. Das Elend war enorm.» Die Frauen im Gefängnis waren für Pia Stirnimann keine Delinquentinnen. «Oft konnten sie keine Ausbildung machen und wurden vom Mann und Vater der Kinder im Stich gelassen. Sie hatten keine andere Wahl, als mit Drogen zu handeln, um die Familie durchzubringen.» Intuitiv wusste sie: «Hier muss ich etwas tun. Ich habe meine Aufgabe gefunden.» Mit einem peruanischen Fachmann erarbeitete sie das Konzept für ein alters- und geschlechterdurchmischtes Haus für Kinder, deren Eltern im Gefängnis sind. Unter einem schützenden Dach sollten sie Fürsorge, Liebe und Erziehung erhalten und auch eine Ausbildung machen können. Wichtig war ihr auch, dass Geschwister zusammenbleiben konnten. Als Trägerschaft gründete sie den Schweizer Verein «Fraternitas Humana» und zur lokalen Verankerung einen zweiten Verein vor Ort. Sie schrieb Gesuche und sammelte Geld durch Vorträge und Predigten. Sie wollte für immer gehen, löste ihre Wohnung auf und übersiedelte im Frühling 1984 nach Peru.

Patin für viele Kinder
Dort kaufte sie einen nicht mehr bewirtschafteten Bauernhof in einem relativ fruchtbaren Gebiet und baute ihr Projekt auf. Mit Genehmigung der Behörden zogen bald die ersten Kinder bei ihr ein. Anfänglich wurden sie von «Gotte» Pia betreut. Bald fand sie peruanische Hausmütter, die sie für ihre Aufgabe ausbildete. Durch schlimme Erfahrungen waren viele Kinder traumatisiert. Der Umgang mit ihnen war eine grosse Herausforderung. Das Zusammensein mit anderen Kindern mit ähnlichen Schicksalen wirkte oft heilend. Pia erzählt von einem kleinen Buben, der vergebens auf den Besuch der erneut verhafteten Mutter wartete und sehr traurig war. Ein anderer Bub legte ihm die Hand auf die Schulter und tröstete ihn mit den Worten: «Du hast doch uns». Einige Kinder kehren nach der Entlassung der Eltern aus dem Gefängnis auf deren Wunsch wieder zu Ihren Müttern zurück. Andere weigern sich, weil sie etwas lernen wollen. Pia Stirnimann freut sich, dass ein Grossteil «ihrer» bereits erwachsenen Kinder eine Ausbildung gemacht hat und das Leben selbstständig meistert.

Schwieriger Neuanfang
Als anfangs der 90er Jahre wegen Unruhen und Terrorismus soziale Einrichtungen und Ausländer gefährdet waren, wurde auch Pia bedroht. Nachdem in der nahegelegenen Stadt der Pfarrer niedergeschossenen worden war, verliess sie das Land, um ihr Werk nicht zu gefährden. Mit 57 Jahren zurück in der Schweiz war das Einleben schwierig. Erst nach längerem Suchen fand sie eine Arbeit in einer geschützten Werkstatt für Erwachsene mit einer Behinderung. Seither begleitet sie ihr Sozialwerk aus der Distanz und reist jährlich für ein paar Wochen nach Peru. Dort macht sie Supervision, bildet neue Mitarbeiterinnen aus und bespricht sich mit dem Vorstand des lokalen Vereins. Daneben engagiert sie sich für das Fundraising für ihr Werk. Dieses hat sich alles in allem gut entwickelt und bietet heute Platz für 20 bis 25 Kinder.

Kraft aus dem Glauben
Was gab Pia Stirnimann die Kraft, immer wieder neu anzufangen, Rückschläge und Enttäuschungen auszuhalten und angesichts all der traurigen Schicksale nicht zu verzweifeln? «Wir sind da, um etwas recht zu machen. Die Aufgaben habe ich nicht gesucht. Sie wurden mir vor die Füsse gelegt. Doch kann ein Mensch ein solches Leben nicht bestehen, wenn er nicht gläubig ist.» Der Glaube im Sinn eines Urvertrauens gab ihr immer wieder die nötige Kraft. «Ich konnte mich fallen lassen und wurde getragen.» Dankbar für viele unvergessliche Erlebnisse ist sie zufrieden mit ihrem Leben. «Nicht alles ist gelungen. Und doch konnten wir vielen Kindern ein besseres und glücklicheres Leben mit einer Zukunft ermöglichen.»

Nun ist Pia Stirnimann müde geworden. «Geistig fühle ich mich überhaupt nicht alt , doch habe ich physisch keine Energie mehr.» Ein letztes Mal wird sie die lange Reise nach Peru antreten und dort mit ihrer Grossfamilie ihren 85. Geburtstag feiern. «Es gibt vor Ort einiges zu besprechen. Wenn alles wieder gut aufgegleist ist, ist meine Zeit als Pionierin vorbei, und ich kann in Ruhe sterben. Ich bin zuversichtlich: Alles wird gut gehen.»

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