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Mein Leben ist wie eine Perlenkette

Das Leben hat Ottilia Bütler für Notsituationen anderer Menschen sensibilisiert.
Das Leben hat Ottilia Bütler für Notsituationen anderer Menschen sensibilisiert.

Foto und Text: Monika Fischer

Ottilia Bütler (1940) wuchs in einfachsten Verhältnissen mit sieben Geschwistern auf. Weil sie nicht gut hörte, wurde sie in der Schule als dumm abgestempelt. Eine Abklärung gab es damals nicht. Als «billiger Knecht» verrichtete sie in der Jugend harte Arbeit in der Landwirtschaft. Später kämpfte die siebenfache Mutter für die Ausbildung ihrer Kinder. Als ihr Mann gewalttätig wurde, entschloss sie sich, zu gehen: ohne Geld und ohne Sicherheit. Selbstständig baute sie sich ein neues Leben auf. Mit ihrem zweiten Mann hatte sie es besser. Nach seinem Hirnschlag pflegte sie ihn mehrere Jahre. Vergebens suchte sie nach Unterstützung und wurde selber krank. Sie rappelte sich wieder auf und schätzt den guten Kontakt zu ihrer Grossfamilie mit den 14 Enkelkindern. Zufrieden hält sie fest: «Ich hatte immer wieder Glück in meinem Leben.»

(Fortsetzung)

Ottilia Bütler schildert ihre Kindheit am schattigen Hang. «Wir hatten zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.» Die grosse Familie hatte mit der Grossmutter im kleinen Häuschen nicht genug Platz. Sie musste in zwei Etappen essen. Mit der Schwiegermutter verstand sich der Vater, er hatte eingeheiratet, nie gut. «Es herrschte immer dicke Luft und fehlte an Liebe und Zuwendung.»

Als dumm abgestempelt
Eigentlich wäre sie gerne zur Schule gegangen. Da sie nicht gut hörte, bekam sie im Unterricht nicht alles mit und musste die 2. Klasse wiederholen. «Ich wurde nie abgeklärt. Es hiess einfach, ich sei dumm.» Trotzdem bestand sie dank der Unterstützung der Mutter die Prüfung für die Sekundarschule knapp. Schon früh wurde sie zur Einzelgängerin. «Ich las sehr viel. Mit den Büchern lebte ich in einer anderen Welt.» Einen guten Kontakt hatte sie zu ihrem ältesten, behinderten Bruder. «Er konnte sich nicht ausdrücken und hatte epileptische Anfälle. Wahrscheinlich war er Autist. Als er zuhause nicht mehr tragbar war, wurde er in einer Klinik versorgt. Ich habe ihn nie mehr gesehen und erst nachträglich von seinem Tod erfahren. Das tat mir weh.»

Ein billiger «Knecht»
Gerne hätte Ottilia einen Beruf erlernt. Im Gegensatz zu den Brüdern war dies nicht möglich. Als Haushalthilfe einer Tante erfuhr sie vor allem, «was frau machen durfte und was nicht.» Bei andern Stellen in der Landwirtschaft musste sie draussen harte Arbeit verrichten. «Ich wurde als ‚billiger Knecht’ gebraucht, weil man mir weniger Lohn bezahlen musste als einem Mann.» Eigenes Geld hatte sie nicht. Den Lohn musste sie zuhause abgeben. Eine Bäuerin ermunterte sie, aus ihrem Lohn von einem Hausierer ein Kleid zu kaufen. Eine andere Bäuerin hatte ihr ein Aufklärungsbuch hingelegt. «Es zeigte die körperlichen Vorgänge. Doch war eine gelingende Beziehung kein Thema.»

Im Freiamt lernte sie ihren Mann kennen. «Ich verliebte mich in die Landschaft und traf meinen Mann. Sie heiratete «obwohl ich nicht sicher war, ob wir zusammenpassten.» Der Mann half zuhause in der kleinen Landwirtschaft und machte Gelegenheitsarbeiten. Auch er hatte kein eigenes Geld. Für eine misslungene Operation des Daumens erhielt Ottilia 2000 Franken. «Damit kaufte ich die Aussteuer. Es war mir wichtig, im eigenen Bett zu schlafen.» Dieses stand in einem kalten Zimmer im Haus der Schwiegermutter, wo das junge Paar vier Jahre lebte. «Es war nicht einfach. Die Situation war nicht viel besser als zuhause.»

Grossfamilie
Ein Jahr nach der Heirat gebar Ottilia Bütler trotz Schwangerschaftsvergiftung das erste gesunde Kind. Jedes Jahr kam ein weiteres dazu. «Wenn der Mann will, muss die Frau sich fügen.» So hatte sie es gelernt. Sie liebte ihre Kinder - und war gleichzeitig überfordert und hilflos. Nach sechs Kindern verschrieb ihr der Arzt die Pille. «Das war 1968 von der Kirche erlaubt, um den Zyklus zu regulieren.» Sie ertrug die Pille nicht und gebar nach drei Jahren ihren jüngsten Sohn.

Für die Grossfamilie war es schwierig, eine günstige Wohnung zu finden. Sie musste immer wieder umziehen. «Einmal wohnten wir in einem Haus ohne Bad und mit Plumpsklo. Eine Zeit lang habe ich für fünf Kinder Stoffwindeln ohne Waschmaschine gewaschen. Es war mir egal. Hauptsache, wir wohnten ohne Schwiegereltern.» Ottilia musste für alles kämpfen: gegen die Einmischung der Schwiegermutter, fürs Geld, für die Ausbildung der Kinder. Es war ihr wichtig, dass auch die beiden Töchter eine Lehre machen konnten.

Machen, was gemacht sein musste
Der anfänglich hilfsbereite Mann veränderte sich. «Wahrscheinlich aus Enttäuschung, von seiner Familie ausgenützt worden zu sein. Wichtig war ihm der Eindruck gegen aussen. Für die Kinder baute er einen schönen Spielplatz.» Mit den Jahren wurde er gegenüber seiner Frau gewalttätig. Er schlug sie, vor allem, wenn er getrunken hatte. Das kam sehr häufig vor. Ottilia Bütler suchte Hilfe auf dem Sozialamt der Gemeinde - und wurde enttäuscht: «Sie glaubten meinem Mann mehr als mir, sodass ich am Schluss als die Böse dastand.» Trotzdem pflegte sie bei Bedarf ihren gesundheitlich angeschlagenen Mann. «Ich machte, was gemacht sein musste.»

Die Situation wurde für sie unerträglich. Sie war überzeugt, einmal für sich selber sorgen zu müssen. Deshalb besuchte sie beim Roten Kreuz einen Kurs für Pflegeassistentinnen. «Zum Glück, wie ich später merkte.»

Auf eigenen Füssen
Von einem Tag auf den andern stand ihr Entschluss fest: «Ich gehe.» Zuvor hatte sie sich bei der Frauenzentrale informiert. Sie bekam unentgeltlich Unterstützung durch einen Anwalt. Dieser verfügte eine superprovisorische Trennung.

Sie wohnte zuerst beim ältesten Sohn, später in einer WG mit den zwei jüngsten Söhnen und ihren Freundinnen, bis sie selber eine Wohnung nahm. Arbeit fand sie zuerst als Aushilfe bei der Migros, danach 14 Jahre als Pflegeassistentin in einem Alters- und Pflegeheim. Bei der Scheidung hatte der Anwalt eine Lösung gefunden, die für beide Partner stimmte. Da der Ex-Mann keine Alimente zahlen konnte, bekam sie nach seinem frühen Tod eine Witwenrente. Das gab ihr Luft, ihr Pensum zu reduzieren.

Überlastung als pflegende Angehörige
Ihr neuer Partner hatte bei einem Unfall ein Bein verloren. Er zog zu ihr, weil es im Haus einen Lift gab. «Er war ehrlich und grosszügig und hat mich verwöhnt. Gemeinsam unternahmen wir vor allem Car- und Flussreisen.» Ottilia Bütler bedauert, dass er eine volle IV-Rente bekommen hatte, obwohl er noch hätte arbeiten können. Er sei halt kein Kämpfer gewesen. Ohne Beschäftigung begann er zu trinken. Das Paar heiratete 2006. «Wir hatten uns gern, und doch war es eher eine Zweckheirat, damit ich später finanziell abgesichert war.» Damals schon ging es dem Mann gesundheitlich nicht gut. Hochprozentiger Alkohol hatte seine Speiseröhre verätzt, was zu einer Schluckhemmung führte. Lange konnte er sich selber pflegen, bis er eine offene Wunde am Stumpf bekam. Nun folgten Wechsel zwischen Spital und Aufenthalten zuhause, wo Ottilia ihn zusammen mit der Spitex pflegte. Nach einem Schlaganfall konnte er nicht mehr sprechen. «Ich war angebunden, an Sonn- und Werktagen, sechs, sieben Jahre lang. Es war ein permanentes Auf und Ab.»

Schon früher hatte sie wahrgenommen, dass der Mann keine Kraft mehr zum Leben hatte. Die Frage, ob sie sich strafbar macht, wenn sie auf seinen Wunsch bei einem medizinischen Zwischenfall keinen Arzt ruft, quälte sie. In ihrer Verzweiflung suchte sie Hilfe auf dem Sozialamt. Doch bekam sie keine befriedigende Antwort. «Ich war total überfordert mit der Situation. Niemand merkte, wie schlecht es mir ging. Ich mied andere Leute und liess alles liegen. Bald zeigten sich auch körperliche Beschwerden.» Ihr Mann hatte sich aufgegeben und ass immer weniger. Als er über die Sonde ernährt wurde, riss er diese selber heraus und konnte endlich sterben.

Immaterielle Werte
Ottilia Bütler bemühte sich, einen Ausweg aus ihrem Tief zu finden. Hilfreich waren dabei alternative Medizin, die Arbeit im Garten und ein Fotokurs. Sie begann wieder zu lesen und schaut im Fernsehen oder im Kino ausgewählte Filme. Regelmässig besucht sie das Ritualsingen und schätzt an den Tagungen der GrossmütterRevolution die Begegnung mit anderen Frauen und ihren Geschichten. Schon mit 50 erstmals Grossmutter geworden, freut sie das Zusammensein mit ihrer Grossfamilie und den 14 Enkelkindern.

«Manchmal fühle ich mich in unserer Gesellschaft wie im falschen Film.» Denn nicht das Geld, sondern immaterielle Werte stehen für sie im Vordergrund. Das ist neben der Sorge für die Natur das Bemühen um ein gutes Zusammenleben. Sie achtet darauf, wie Menschen miteinander umgehen und setzt sich dafür ein, dass es andern nicht so geht wie ihr. Zufrieden hält sie fest: «Ich habe so viel erlebt und auf meinem Weg auch viel Glück erfahren. Mein Leben sehe ich als Perlenkette, die übers Universelle hinaus in eine andere Dimension führt. Immer wieder wurde eine weitere Perle zugefügt. Es begann mit der Taufpatin, die mir schöne, warme Kleider schenkte. Etwas vom Schönsten war eine Woche Einsatz im Bergwald-Projekt mit Menschen aller Altersstufen. Nun ermöglicht mir das GA das Reisen. Wie privilegiert ich doch bin!»

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