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Von der Trauer der Zurückgebliebenen

Bernadette Kurmann

Manchmal, wenn ich am Morgen erwache und mein Mann mir den Rücken krault, bin ich glücklich. Ich spüre seine Wärme, seinen Atem, nehme den Duft seines Körpers wahr. Es ist das wunderbare Gefühl von Zweisamkeit und Vertrautheit. In solchen Momenten erahne ich, wie wertvoll diese Momente des Zusammenseins sind. Manchmal überfällt mich urplötzlich eine tiefe Traurigkeit. Mir wird bewusst, wie schnell unser Glück ein abruptes Ende finden kann.

(Fortsetzung)

Wir sind ein uraltes Paar, seit bald fünf Jahrzehnten zusammen. In unserer Beziehung herrschte nicht immer pure Harmonie. Wir mussten Hörner abstossen. Wie Löwin und Löwe haben wir das eigene Territorium verteidigt. Einmal trennten wir uns und fanden nach ein paar Wochen wieder zusammen. Seither ist klar: Wir sind füreinander geschaffen.

Kinder und Reibungsflächen
Eins, zwei, drei Kinder wurden geboren. Wir waren nun Eltern, und das Zusammenleben verkomplizierte sich. Neue Absprachen wurden nötig, weil beide Familie und Beruf leben wollten. Reibungsflächen boten sich viele. Mit gegenseitigem Respekt gelang es, eine Welt zu schaffen, in der sich alle einigermassen wohl fühlten. Die Kinder wuchsen heran. Sie bescherten uns wunderbare Jahre. Es war ein Glück, junge Menschen beim Heranwachsen zu begleiten. Das Familienleben bedeutete aber auch harte Arbeit. Wir brauchten all unsere Energie, um Kindererziehung und zwei Berufsleben unter einen Hut zu bringen.

Wir blieben zurück
Jahre später sind die Kinder zu eigenständigen Menschen geworden, wählten ihre Berufe und machten sich davon. Wir blieben zurück. Zumindest ich war bisweilen traurig über die Leere im grossen Haus. Es fehlten die spannenden Gespräche zu fünft. Vorbei war die Zeit, in denen wir am Mittagstisch debattierten und erfuhren, wie sich die Töchter im Leben bewährten und wie sie über die Welt dachten. Solche Gespräche waren plötzlich auf Wochenenden oder auf einen gemeinsamen Kaffee beschränkt. Kinder müssen ihren eigenen Weg gehen. Das ist allen Eltern klar. Kinder sind ein Geschenk, und sie sind den Eltern zu nichts verpflichtet.

Er nistet sich wie ein Gespenst ein
Uns bleibt im Alter die Aufgabe, mit der neuen Situation zurecht zu kommen. Nach der Pensionierung haben wir angefangen, unser neues Leben zu gestalten: lange Spaziergänge, Reisen, lesen, lahmgelegte Hobbies reaktivieren, Filme anschauen… Wir haben uns eingerichtet im neuen Leben. Wir schätzen die Freiheiten, die wir früher nie hatten, den ruhigeren Rhythmus, die Zeit für uns… Wäre da nicht die Nähe des Todes, der sich wie ein Gespenst dann und wann im Kopf einnistet. Die erwähnte Panik, die sich ab und zu ins Glück einschleicht. Die Angst, den lieben Partner zu verlieren.

Die Tapferkeit der Trauernden
Ein Teil von uns wird früher gehen, der andere wird zurückbleiben. Ich denke, es ist ein Privileg, zuerst gehen zu dürfen. Ich sehe die vielen Frauen (ja, vor allem Frauen) in meiner Umgebung, die ihren Lebenspartner verloren haben. Meine Mutter pflegte zu sagen: „Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke.“ Wie sie erlebe ich die meisten Trauernden als sehr tapfer. Sie fordern von sich, dass sie mit der neuen Situation zurechtkommen. Sie sagen sich: „Es gibt Millionen von Menschen, die das durchmachen. Auch ich werde es schaffen.“

Ein Auf und Ab über Jahrzehnte
Ich sehe Frauen und Männer, wie sie sich bemühen, das aufgezwungene Einzelleben in den Griff zu bekommen. Ich spüre ihre Verzweiflung, wenn ihnen das nicht gelingen will. Sie entwickeln tausend Ideen, ihre Einsamkeit abzuschütteln. Aber diese verfolgt sie wie der eigene Schatten. Es gibt Tage, an denen gelingt das Vergessen besser. Eine Erinnerung, ein Gegenstand oder ein vor Jahren gemeinsam besuchter Ort wirft sie urplötzlich wieder aus der Bahn. Unendliche Trauer, Gefühle des Verlassenseins und Depression machen sich breit. Es ist ein Auf und Ab oft über Jahrzehnte hinweg.

Ich rede gerne mit Verlassenen. Wenn ich ihnen zuhöre, frage ich mich manchmal: Wie werde ich das bewerkstelligen, wenn das Schicksal das von mir verlangt? Kann ich mich darauf vorbereiten? Gibt es irgendwo Hilfe, die abgerufen werden kann? Ich weiss es nicht und fühle mich schon heute sehr alleine. Umso mehr will ich den Moment geniessen, das Geschenk unserer Gemeinsamkeit.

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