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Hinschauen!

Bernadette Kurmann

Ich mag meine Fitnessstunden nicht. Ich gehe hin, weil ich etwas für meinen alternden Körper tun muss. Bei meinen stereotypen Übungen beobachte ich die Menschen an den Geräten. Sie lassen sich in grobe Gruppen einteilen: Da sind jene mit dem perfekten Body. Sie kommen, weil sie sich den schönen Körper erhalten möchten. Manchmal beneide ich sie. Da sind die Muskelmänner. Sie plagen sich ab und stöhnen beim Heben der Gewichte. Sie trinken Eiweissshakes und tragen hautenge Shirts. Ihr Ziel ist ein perfekter, muskulöser Body. Manchmal belächle ich sie. Dann gibt es diejenigen Fitnessbesucher, die viel zu viel Gewicht mit sich herumtragen. Sie brauchen Bewegung, und sie möchten Gewicht verlieren. Ich sehe sie oft nur ein paar Mal kommen. Sie tun mir irgendwie leid. Dann gibt es die sehr vielen alten Menschen, vor allem Frauen. Sie wissen, dass sie für ihre Beweglichkeit und ihre Muskelkraft etwas tun sollten. Es sind die fleissigsten und treusten Besucherinnen des Zentrums. Ich fühle mich als eine von ihnen.

(Fortsetzung)

Der Anblick beelendet mich
Beim Umziehen in der Kabine begegne ich einer älteren Frau, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre älter als ich. Sie kommt direkt aus der Dusche, ist splitternackt und wirkt selbstbewusst. Sie lacht mich an, grüsst freundlich und zieht an mir vorbei. Mein Blick streift an ihrem Körper hinunter. Spontan wende ich den Blick ab. Nein, nicht aus Scham oder Pietät. Ich muss wegsehen, weil ich, was ich sehe, nicht aushalte. Der Körper der Frau ist alt geworden. Ihre Haut hängt an den Beinen hinunter wie ein viel zu grosser Strumpf. Der Anblick beelendet mich; der Grund für mein Wegschauen.

Ein unangenehmes Gefühl
"Schau hin", sagt meine innere Stimme. "Halte diesen Blick aus, er zeigt dir nicht weniger als deine eigene Vergänglichkeit." Ich kenne das unangenehme Gefühl nur zu gut. Es befällt mich auch, wenn ich meine Schwester beobachte, wie sie sich mit ihrem havarierten Knie mühsam vorwärtsbewegt; wenn mein Bruder schreit, weil er nicht mehr gut hört. Es befällt mich, wenn Menschen - auch ich - nach Wörtern suchen, nach Namen, die ihnen nicht mehr einfallen wollen. Das Gefühl befällt mich, wenn ich bei Familienfesten erkenne, dass meine Schwägerinnen und Schwager immer älter und komplizierter werden. Auch dann, wenn die Gespräche mit Freunden sich nur noch um Krankheit und Gebrechen drehen.

Nichts für Feiglinge
"Altwerden ist nichts für Feiglinge", so der Titel eines Buches. Es ist tatsächlich feige, wenn ich den Blick abwende beim Anblick von Gebrechlichkeit. Wenn ich nicht wahrhaben will, was wir alle täglich sehen: Das Leben ist endlich. "Es ist noch nie jemand übrig geblieben", scherzte kürzlich eine Bekannte. Ich fand diese Aussage befreiend. Millionen von Menschen sind den Weg der Vergänglichkeit vor uns gegangen. Wir sehen Heerscharen von Menschen, die ihn täglich gehen. Und immer noch schreckt uns der Gedanke an unser Ende. Und dieses Ende kommt bestimmt, meist nicht auf einen Schlag. Es vollzieht sich langsam und leise und will bis zuletzt gelebt werden. Hinsehen braucht Mut, weil wir direkt betroffen sind. Schauen wir aber hin, dann lernen wir, unsere Vergänglichkeit allmählich zu akzeptieren. Das Ende wird selbstverständlich; es gehört zum Leben.

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