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Erfolgreich auch ohne akademische Titel

Trotz Sorgen über die Zukunft geniesst Frieda Lüscher täglich die wunderschöne Lage ihrer Wohnung über dem Langensee.
Trotz Sorgen über die Zukunft geniesst Frieda Lüscher täglich die wunderschöne Lage ihrer Wohnung über dem Langensee.

Foto und Text: Monika Fischer

Sie war eine gute Schülerin, wollte studieren, wollte wissen und verstehen. Seit sie lesen konnte, waren Bücher ihre liebsten Begleiter. Rückenprobleme machten den Lebenstraum von Frieda Lüscher (1941) zunichte. Freiwillige Einsätze konfrontierten sie mit dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Holocaust, mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das hat ihr Leben, ihre berufliche Laufbahn und ihr ehrenamtliches Engagement geprägt. Zufälle führten sie zur richtigen Zeit an die passenden Arbeitsstellen. Engagiert packte sie an, wo sie gefragt war und zog ihre Projekte durch. Konsequent und hartnäckig. Unabhängig gegenüber Männermacht und meint: «Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe.»

(Fortsetzung)

Als älteste von vier Kindern ist Frieda Lüscher in einer Milchzentrale in einem Dorf im Aargau aufgewachsen. Die aus der Stadt Bern stammende Mutter war auf dem Land unglücklich. Deshalb packte Frieda von klein auf an, was zu tun war. «Ich verkaufte im Laden, verpackte Buttermödeli, machte Bestellungen. Es fiel mir leicht, da ich die Schule mit links erledigte.» Die Kantonsschule musste sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben und hatte nur ein Ziel: «Weg von der Mutter mit ihren Problemen! Weg von dieser Familie, in der nie geredet und vieles auf mich abgeladen wurde, wo ich mit allem allein war!»

Zupacken, wo Hilfe nötig ist
Nach drei Monaten im Welschland musste sie nach Hause zurückkehren. Beim Vater zeigten sich erste Anzeichen von Alzheimer. Wieder packte sie an und entlastete ihn von jenen Arbeiten, die er nicht mehr zuverlässig erledigen konnte. Als eine Art Notlösung absolvierte sie eine einjährige Postlehre. Neben der Arbeit auf verschiedenen Poststellen half sie in den nächsten zwei Jahren zuhause. Doch die Arbeit auf der Post gefiel ihr von Anfang an nicht. «Ich wollte mehr, ich wollte ins Ausland. Ich hatte inzwischen gelernt, mit meinen Rückenproblemen zu leben.»

Prägende Erfahrungen
In einem Projekt der Jungen Kirche leistete sie kurz nach dem Mauerbau einen Freiwilligeneinsatz in Westberlin in einem «Altersheim für ehemals Rasseverfolgte».
Damals funktionierten weder Telefon- noch Postdienste zwischen Ost und West. Neben ihrer Arbeit im Altersheim erledigte sie inoffiziell Botengänge und brachte Sonntagspredigten, Medikamente und Geld nach Ostberlin. «Es war abenteuerlich. Die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und der Mauer zwischen Ost und West beeinflusste mein weiteres Leben.» Bei der Arbeit als Sekretärin beim HEKS sparte sie Geld für einen einjährigen freiwilligen Einsatz in den USA. In Washington DC erlebte sie die Rassenunruhen im Zusammenhang mit den Bürgerrechtsproblemen. Auch bei ihrer Arbeit in einer reformierten Kirche musste sie sich täglich mit Rassismus auseinandersetzen. Von Montag bis Freitag gab es eine Krippe und Beschäftigungsprogramme für schwarze Kinder und Jugendliche. Den Gottesdienst am Sonntag besuchten jedoch nur Weisse. «Es war ein Schock für mich zu sehen, dass die schwarzen Menschen der Nachbarschaft nicht als gleichwertig galten.»

Von der «Tippmamsell» ins Leitungsgremium
In Genf fand sie Arbeit als Büroangestellte in der Jugendabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen, dem heute weltweiten Zusammenschluss von 348 Mitgliedskirchen. Bald schon durfte sie ihren Chef an die 4. Vollversammlung nach Schweden begleiten. Es war Juni 1968, und der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin sollte statt des im April ermordeten Martin Luther King die Eröffnungsrede halten. «Ich traf ihn hinter der Bühne, wo er hin und her tigerte und meinte, er wisse gar nicht, was er diesen Leuten erzählen solle. Aus dem Stegreif hielt er eine historische Rede über Rassismus. Das hat mich zutiefst beeindruckt.» Eine Neuorganisation der Jugendarbeit brachte einen Personalabbau mit sich. Frieda Lüscher übernahm immer mehr Leitungsaufgaben und schaffte es als beigeordnete Jugendkoordinatorin bis ins oberste Gremium. Gleichzeitig engagierte sie sich im Aufbau eines Personalrates. Mit der Begründung, sie sei zu politisch und nicht spirituell genug, wurde ihr nach neun Jahren gekündigt. «Es überraschte mich nicht. Immer wieder hatte es Probleme mit Theologen gegeben. Sie ertrugen es nicht, mit einer Nichtakademikerin, die erst noch eine Frau war, zusammenzuarbeiten.» Die Erfahrungen mit der Kirche «als männlich geprägte Machtinstitution» führten zu ihrem Kirchenaustritt. «Der Grundsatz der Nächstenliebe gegenüber Mensch und Mitwelt sind mein Lebensprogramm. Dazu brauche ich weder Gott noch die Kirche.»

Rucksack gefüllt
Der Zufall führte sie ans Universitätsinstitut für Entwicklungsstudien in Genf. «Ich begann als Aushilfe und war schon nach zwei Jahren Chefin des Studentendienstes und Studienberaterin.» Auch diesen Aufstieg führt sie auf ihre schnelle Auffassungsgabe und ihr überdurchschnittliches Engagement zurück. «Ich gab mein Bestes. Die Erfolge stärkten mein Selbstvertrauen. Und doch nagte ich daran, nicht studiert zu haben.» Deshalb packte sie die Gelegenheit und absolvierte neben ihrem 75-Prozent-Pensum ein zweijähriges Nachdiplomstudium in Entwicklungsfragen. Sie schätzte die spannende Arbeit mit Kontakten zu Studentinnen und Studenten vor allem aus Afrika und Lateinamerika. Als das Institut die Aufnahmebedingungen einschränken wollte, stimmte es für sie nicht mehr. Sie kündigte und ermöglichte sich mit dem Geld der Pensionskasse eine einjährige Auszeit.

Ihre eigene Chefin
Sie zog nach Bern und machte sich mit 42 Jahren selbstständig. Mit Angeboten in den Bereichen Administration, Sprache und Organisation von Kulturprojekten erhielt sie erste Aufträge. Grosse und kleine, mehr oder weniger spannende und herausfordernde folgten. Eine Konstante war ihre Arbeit als Übersetzerin, die sie bis heute sporadisch weiterführt. Ein grosser Auftrag war ihre Mitarbeit am Pilotprojekt Nord-Süd-Dialog von Pro Helvetia. Das «Atelier Afrique» in der Stadt Biel mit Ausstellungen, Konzerten, Vorträgen, Theater wurde ein Grosserfolg. Ebenso das nachfolgende «Atelier Kuba».

Nach der Übernahme der Leitung eines Bildungszentrums des Bundes im Maggiatal zog sie ins Tessin. Ihren interessantesten Auftrag fand sie als Mitglied und Vizepräsidentin der Zulassungskommission für den Zivildienst. «Ich hatte das Privileg, über 1200 junge Männer zu ihrem Gewissenskonflikt in Bezug auf den Militärdienst zu befragen und diese schwierige Aufgabe der Kommission mitzuprägen.»

Rückblickend erkennt Frieda Lüscher den roten Faden, der sich durch ihr bewegtes Leben zieht. «Ich reisse Dinge an, die mich reizen und bleibe dran. Ich gebe nicht auf, gibt es doch bei Schwierigkeiten immer eine Lösung, manchmal halt über Umwege. Es funktionierte. Das gab mir Mut und Kraft, immer wieder Neues anzufangen. Zudem bildete ich mich ständig weiter. Beruflich und privat reise ich viel und lernte andere Länder und Kulturen kennen.»

Im Tessin zuhause
Seit 30 Jahren ist Frieda Lüscher im Tessin zuhause. Dort lernte sie AvaEva kennen. Die Bewegung ist aus der GrossmütterRevolution entstanden und seit bald zwei Jahren als Verein organisiert. «Das erste Convegno in Bellinzona mit 120 aufgestellten Frauen war ein enormes Erlebnis. Sofort wusste ich: Hier mache ich mit.» Sie ist Mitglied des Vorstandes, nimmt teil am Erzählcafé und stellte ein Projekt zum Alleinleben im Alter auf die Beine.

Erst seit einigen Jahren kann sie das Leben gelassener nehmen: «Einfach sein, lesen, einen Kaffee trinken gehen und mir zugestehen, auch einmal nichts zu tun.» Sie geniesst ihre Wohnung mit weitem Blick über den Lago Maggiore und meint: «Ich hatte wohl einige Beziehungen. Doch wusste ich schon früh, dass eine Heirat und Kinder für mich nichts ist.»

Mit dem Älterwerden hatte sie bisher keine Mühe und ist dankbar für ihre gute Gesundheit, auch wenn sie feststellen muss, dass nicht mehr alles so läuft, wie sie es gerne möchte. Dazu gehört neuerdings ein privater Konflikt. «Es macht mich wütend und verletzt mich, dass ich angelogen und meine Hilfsbereitschaft missbraucht wurde. Es ist eine neue Erfahrung für mich. Immer hatte ich alles selber in der Hand. Nun brauche ich die Hilfe einer Fachperson.»

Sorgen bereitet ihr die Lage ihrer Wohnung am Hang, die nur über eine lange Treppe erreichbar ist. «Ich kann mir aber einen Wegzug nicht vorstellen. So verdränge ich das Thema und hoffe, dass ich einmal mit den Füssen voran aus der Wohnung getragen werde.»

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