Schliessen

Schwächer werden ist auch ok

Marie-Louise Barben

In diesen Tagen ärgere ich mich jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, über eine Werbung des Fitness-Anbieters Kieser: «Älter werden ist ok. Schwächer werden nicht! »
Genau, denke ich, so stellt sich das der Fitness-Pionier der Schweiz vor. Mit den SeniorInnen lässt sich schliesslich gutes Geld verdienen. Noch mehr ärgert mich aber der Imperativ, der uns älteren und alten Menschen entgegengeschleudert wird. Älter werden ist ok, so lange ihr gesund bleibt und nicht zu viele Kosten verursacht. Also tut gefälligst etwas dafür. Älter werden, gesund bleiben und dann wenn möglich kostengünstig sterben - das ist am vorteilhaftesten für die Krankenkassen und die Sozialversicherungen. So stellen sich das im Prinzip alle vor, bei denen die Kostenfrage an oberster Stelle steht.

(Fortsetzung)

Das Leben ist aber nicht so. Es ist des Lebens Lauf und die normalste Sache der Welt, dass die Kräfte mit der Zeit abnehmen. Bei den einen früher, bei den anderen später. Nicht jeder und jede kann und will den Druck der Leistungsgesellschaft im Alter in Form von Selbstoptimierung fortsetzen. Schwächer werden ist auch ok.

Ich nehme als Beispiel meine ältere Schwester, ich nenne sie hier Lena.

Lena ist bald dreiundachtzig. Sie lebt allein. Sie ist in den letzten Jahren schwächer geworden. Der Imperativ des Fitness-Anbieters kümmert sie nicht. Wenn sie das Haus verlässt, geht sie zu ihrer Sicherheit an Stöcken. Sie kann aber nicht lange gehen, denn sie hat starke Nacken- und Rückenschmerzen. Lena hat auch Probleme mit den Augen. Sie, deren ganze Wohnung von Büchern überbordet, kann nicht mehr lange lesen. Lena kocht nicht, isst unregelmässig und wohl auch nicht sehr gesund. Sie sagt, sie habe eigentlich nie Hunger. Entsprechend ist ihr Energiepegel.

Lena wohnt nicht in derselben Stadt wie ich, meine Geschwister und unsere Kinder, Lenas Nichten und Neffen. An ihrem Wohnort ist sie sozial nicht sehr gut eingebettet. Sie hat nur wenige Bekannte, die sie regelmässig sieht.

Lange Zeit war Lena ein Vorbild für mich. Sie wusste schon als Kind, was sie später einmal werden wollte – Dolmetscherin! Sie ist früh von zuhause weggegangen, und bereits als Jugendliche hat sie entschieden, keine Kinder zu haben. Als junge Frau arbeitete sie einige Jahre in den USA. Nach der Dolmetscherschule hat sie ein zweites Studium angehängt. Später arbeitete sie in einer internationalen Organisation und war auf Konferenzen und Tagungen auf der ganzen Welt. Uns verband das Interesse an Kultur, Literatur, Politik und die feministische Lebensperspektive. Nach unseren Scheidungen waren wir oft zusammen auf Ferien-, Städte- und Kulturreisen. Ich war ihr sehr verbunden, bin es noch immer, aber die Qualität unserer Beziehung hat sich verändert.

Selbstbestimmung über den Lebensverlauf
Lena beansprucht die Selbstbestimmung über den Verlauf ihres weiteren Lebens. Sie hat sich verschiedentlich dezidiert geäussert, dass sie so lange wie möglich in ihrer Wohnung, in ihrer Stadt bleiben will. Damit nimmt sie dieselbe Haltung ein, wie alle unsere Gesprächspartnerinnen, die wir im Laufe unseres Projektes «Selbstbestimmung und Abhängigkeit» befragt haben (Download Bericht www.grossmuetter.ch). Den Umzug in unsere Nähe, den sie früher in Erwägung gezogen hat, lehnt sie jetzt heftig ab. Sie will nicht unter unserer Kontrolle sein, wie sie sagt. Wir, vor allem meine jüngere Schwester und ich, machen uns oft Sorgen: Was ist, wenn Lena noch schwächer wird und Hilfe braucht?

Hilfe leisten, Hilfe annehmen…
In den erwähnten Gesprächen haben wir festgestellt, dass es vielen von uns schwer fällt, Hilfe anzunehmen. In allen sozialen Austauschprojekten gibt es mehr Menschen, die ein Angebot machen (vorlesen, spazieren gehen, gemeinsam einkaufen, Kaffee trinken, Administratives erledigen etc. etc.) als solche, die auf ein Angebot eingehen. Lieber bezahlen wir für professionelle Dienstleistungen, für diejenigen der Spitex beispielsweise. Mit unseren Nächsten – den Geschwistern, Kindern, FreundInnen – wollen wir auf Augenhöhe verkehren. Wir schieben die Vorstellung auf die Seite, dass das einmal nicht mehr möglich sein könnte.

Bei wem liegt die Verantwortung
Fassen wir zusammen: Selbstbestimmung ist ein hohes Gut. Abhängigkeit ist verpönt. Hilfe annehmen ist schwierig. Aber wie steht es eigentlich mit der Verantwortung? Uns selber gegenüber? Unseren Nächsten gegenüber?

Kommen wir auf Lena zurück: Es liegt im Rahmen ihrer Selbstbestimmung, allein und (in meinen Augen) sozial eher schlecht als recht eingebettet zu leben, sich suboptimal zu ernähren, recht viel Medikamente zu schlucken, Diskussionsangebote auszuschlagen. Es ist Lenas Selbstbestimmung, keine Vorsorgemassnahmen (Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag, Testament) zu treffen, die Dinge auf sich zukommen zu lassen.

Wie sieht es aus meiner Perspektive aus? Welches ist meine Rolle Lena gegenüber? Soll ich, muss ich Verantwortung ihr gegenüber übernehmen? Oder wäre das eine Anmassung und würde gegen ihre Selbstbestimmung verstossen? Mein Gefühl ist, dass ich verpflichtet bin, mich zu kümmern. Aber wie weit geht kümmern? Mein Kümmern kann auch als (unzulässige) Einmischung verstanden werden, mein Nicht-Kümmern jedoch als Vernachlässigung. Was erwartet Lena von mir? Was bin ich bereit und in der Lage zu tun? Oder ganz konkret: Was ist das Schlimmste, das geschehen könnte und wie könnte dies verhindert werden? Wo liegt ihre Verantwortung? Wo liegt meine?

Meinen jetzigen Stand der Unwissenheit fasse ich so zusammen: achtsam leben, im Gespräch bleiben, die veränderten Bedingungen bei mir und bei anderen wahrnehmen, wach und neugierig sein – so lange wie möglich. Lena werde ich in den nächsten Tagen den Bericht «Selbstbestimmung und Abhängigkeit» schicken und sie dann fragen, was sie davon hält. Vielleicht ist er ein Anstoss, unsere gegenseitigen Erwartungen zu klären.

Wir verwenden Cookies und ähnliche Technologien, um das Nutzererlebnis auf unserer Website zu verbessern. Durch die weitere Nutzung dieser Website stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies und ähnlichen Technologien zu. Mehr erfahren