Foto & Text: Bernadette Kurmann
Die Frau mit den langen, grauen Haaren und der einzigartigen Bekleidung zieht Blicke auf sich und fasziniert. Wer mit Agnes Barmettler ins Gespräch kommt, ist berührt: von ihrer Liebenswürdigkeit, ihrem Denken ohne Vorurteile und ihrer bodenständigen Art. Sie mag Menschen und liebt die Kunst. Dafür gibt sie alles: «In der Kunst geht es ums Ganze. Ob du gut bist oder nicht, ist unwichtig. Wenn dir ein «Tolggen» passiert, dann mach etwas draus.» So Agnes Barmettler über ihr Schaffen.
(Fortsetzung)
Agnes ist innerhalb der Mauern des Klosters Engelberg mit Angst und viel Anregung aufgewachsen. Ihr Vater war Käser und lebte mit Frau und neun Kindern im Ökonomiegebäude. In den langen, dunklen Gängen, wo noch viele andere Handwerker, Tischler, Schreiner usw. ihre Werkstätten hatten, fürchtete sich die kleine Agnes. Nur mit Singen konnte sie ihre Angst vertreiben. Als sie grösser war, besuchte sie die Menschen in den kleinen Handwerkerstuben und war fasziniert von ihrer Arbeit, den vielen Utensilien und den Materialien. Weil in der kinderreichen Familie oft Papier zum Zeichnen fehlte, stibitzte sie manchmal für ihre Zeichnungen heimlich Fournierplatten-Teile. Oder sie zeichnete auf den schwarzen Schieferboden in den Gängen, manchmal auch auf die weissen Wände. «Das war natürlich verboten.»
Ein liebevolles Elternhaus
Das Klima in der Familie Barmettler-Barmettler war warm. Mutter und Vater waren den Kindern gegenüber wohlwollend und unterstützend. Ihre Zuneigung und hilfsbereite Art bekamen auch andere Menschen zu spüren. Agnes war das mittlere der neun Kinder. Sie war oft krank. Deshalb musste sie immer wieder zum Hausarzt. Ihn bewunderte sie insgeheim, weil er allen Menschen helfen konnte. Sie beschloss, später einmal Ärztin zu werden. Das Lernen fiel Agnes leicht. Mit 14 Jahren verliess sie Dorf und Familie, um in Ingenbohl das Gymnasium zu besuchen. «Das war hart.» Leider stand damals die Engelberger Klosterschule um die Ecke nur den Buben offen. Als die Sekundarschülerin gegenüber der Berufsberaterin ihren Berufswunsch äusserte, hielt sie ihre Wahl für unmöglich: «Das ist teuer, das kannst du deinen Eltern nicht zumuten.»
Berufswunsch Ärztin
Die Eltern waren anderer Meinung und schafften das Unmögliche: Agnes durfte Medizin studieren. Bald realisierte sie, dass das Studium nicht ihre Welt war: zu verkopft und zu theoretisch. Sie brach es nach dem ersten Semester ab und hatte ein schlechtes Gewissen. Die Eltern hatten ja so viel in sie investiert. Was machen? Sie wusste es nicht, bis sie einer früheren Lehrerin begegnete, die ihr zum Kunststudium riet. Das war ein weiser Rat. Sie schrieb sich in Basel an der Gewerbeschule im Fach Zeichenlehrer ein. Es gefiel ihr, die vielen Kunstrichtungen, Malweisen und Techniken kennenzulernen. Ihren ersten Auftrag erhielt sie dank Beziehungen ihres Vaters. Sie durfte eine Fahne für den Engelberger Älplerverein entwerfen. Sie ist bis heute an feierlichen Anlässen in Gebrauch. Ganz bis zum Schluss zog Agnes auch ihr zweites Studium nicht durch. Sie spürte, dass sie anders ans Malen und Zeichnen herangehen musste, und sie wollte nicht Lehrerin werden. Sie wollte vermehrt aus sich selber schöpfen. Das war in den wilden 68erjahren.
Freischaffende Künstlerin
1967 erhält sie den Auftrag, für ein Theaterprojekt in Morschach das Bühnenbild zu schaffen. Dort trifft sie auf den Studenten Martin Disler. «Er war neugierig, wissbegierig, sehr belesen und an Agnes interessiert.» Anfänglich erwiderte Agnes die Werbungen des Studenten nicht. «Er war vier Jahre jünger als ich.» Auf einer langen Zugreise nach Basel, während der sie über Gott und die Welt diskutierten, kamen sie sich näher. Durch die Beziehung zu Agnes flog Martin Disler aus dem Kollegium Stans und studierte in Solothurn weiter. Um Geld zu verdienen, arbeitete er als Hilfspfleger in der psychiatrischen Klinik Rosegg. Angeregt durch Agnes, beginnt auch Martin zu malen, ungeniert wie ein Kind. «Martin war ein unglaublich begabter Mensch. Er spielte sehr gut Theater, machte Jazzmusik, er zeichnete sehr gut, und er organisierte Veranstaltungen, und fast überall hatte er Erfolg. Er war Reichtum für mich.»
Ab 1970 ist sie freischaffende Künstlerin und bald sehr erfolgreich. Das Künstlerpaar zieht nach Olten. Es entsteht ein starker Austausch mit der Kunst- und Kulturszene. Agnes Barmettler gehört bald zu den wichtigsten Kunstschaffenden der Schweiz. Auf Anhieb werden fünf ihrer Werke für die Solothurner Weihnachtsausstellung ausgewählt. Eines davon kaufte ihr der Kanton sogar ab. «Das war ausserordentlich, schon ein einziges Werk auszustellen, wäre ein grosser Erfolg gewesen – aber fünf Bilder... Das zog Neid nach sich».
Eines Tages erscheint die Polizei und sucht nach Drogen. Ein Klient aus der Psychiatrie hatte sie angezeigt. «Wir hatten nie Drogen konsumiert und nahmen die Angelegenheit zuerst nicht ernst.» Schliesslich durchsuchten sie die ganze Wohnung, und das Paar verbrachte drei Tage im Untersuchungsgefängnis. Sie wurden wie Verbrecher behandelt. Es war die Zeit, in der die «Linken» unter Generalverdacht standen. Das machte Angst. Nachdem Agnes und Martin freigekommen waren, heirateten sie. Sie wollten sich und der Welt beweisen: Wir gehören zusammen.
Eine intensive Künstlerbeziehung
Martin Disler war ein intensiver Mensch. «Wenn wir daheim gearbeitet haben, rief er mich alle fünf Minuten zu sich. Andauernd wollte er meine Meinung wissen und musste sich an mir reiben.» Sie konnte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren und kam als Künstlerin nicht zum Schaffen. Sie zog in ein eigenes Atelier. Dann bekam Agnes Barmettler die Gelegenheit, für zwei Monaten nach Paris zu ziehen. Zum ersten Mal realisierte sie, was konzentriertes Arbeiten - getrennt von Martin - für sie bedeutete. «Ich malte innert kurzer Zeit viele Bilder. Ich brauchte immer schon viel Zeit zum Verarbeiten: Wenn ich im Garten bin, wenn ich nachdenke, beim Spazieren, wenn ich mit jemandem rede.» Das sehe man ihren Bildern vielleicht nicht an, aber übersetzt seien solche Prozesse immer darin enthalten. «Du musst so malen, dass den Leuten beim Betrachten etwas Eigenes in den Sinn kommt.»
Das Labyrinth und …
In Paris besuchte sie die Kathedrale von Chartre und fand das, was sie als Künstlerin nachhaltig beeinflusste: das Labyrinth. «Das hat mich gepackt und ich wusste: Dem gehst du auf den Grund.» Von sich sagte sie, dass sie eine Forscherin sei, die den eigentlichen Dingen stets auf den Grund gehen müsse. «Das ist wie beim Verlieben. Du weisst, mit dieser Person will ich weitergehen. Das kennen alle Menschen.» Ein Labyrinth bezeichnet sie als «Bild der Lebensgesetze». Es irritiere die Gewohnheiten: «Es gibt Vieles gleichzeitig und dazwischen. Das Labyrinth ist eine Abstraktion, eine Meditationsaufgabe. Ich male immer auf diese intuitive Weise.» Zuerst drücke sie ein paar Farben auf die Palette, trete zurück, schaue hin. Vielleicht sehe sie eine Hand, die sie zuvor nicht bewusst gemalt habe. «Es ist wie in den Bergen. In den Felsen habe ich Leute gesehen, Tiere und Geister. Diese sah auch mein Vater, alle sahen solche Wesen. So sind Sagen entstanden.»
… das Volk der Hopi
Ähnlich erging es ihr bei der Begegnung mit den Hopi in Arizona, als sie mit ihrem Mann und einem Freund durch Amerika reiste. Die Kunst der Hopi sei so richtig in sie eingefahren. Die Landschaft vor Ort war ihr fremd: «Dann siehst du eine Kunst, die vollständig mit dem Land übereinstimmt». Sie habe noch nie solche Wolken gesehen. Aber die Wolken auf den Bildern waren diejenigen, die sie sah. Sie entdeckte viele Formen, Zeichen, Kunstgegenstände der Hopi: «Als ich heimkam, habe ich nur noch Bilder dieser Landschaft und dieser Formen gemalt.» Eigentlich wollte sie länger in Arizona bleiben, doch ihr Mann drängte zum Weitergehen. Auf dieser Reise realisierte sie, dass sie ihn Mann verlassen musste: «Ich bremste ihn, und er stiess mich ständig vorwärts. Das war falsch. Jeder und jede muss den eigenen Rhythmus leben.» Hinzu kam, dass Agnes gerne Kinder gehabt hätte, und sie war inzwischen über dreissig. Ihr Mann hatte nie Kinder gewollt. 1977 liessen sie sich scheiden.
Von Geld und der Liebe zu Kindern
Wovon hat sie all die Jahre gelebt? Während des Studiums zahlten ihr die Eltern monatlich 300 Franken. Dieses Geld verwendete sie vor allem für Theater, Ballett, Kino…, für all das eben, zu dem sie als Kind weniger Zugang hatte. «Wenn du nie Geld hast, kommst du mit wenig aus. Du wirst gezwungen, kreativ zu sein.» Sie habe ein typisches Frauenleben geführt. Viele Frauen würden viel Kraft, Energie und Kreativität in Aufgaben investieren, und oft würden sie dafür nicht honoriert. Einmal hatte sie die Absicht, eine Arbeit zum Geldverdienen aufzunehmen. Aber Martin war dagegen, er habe gewarnt: «Wir haben einen Beruf, und wir wollen davon leben. Wir müssen uns ganz mit unserer Kunst beschäftigen, sonst entsteht nichts.» Sie findet, er habe recht behalten. In der Kunst gehe es immer ums Ganze - wie im Leben.
«Wir hatten zwar kaum Geld, aber Zeit für Kontakte mit Menschen, und die Menschen sind so gut.» Sie erzählt von der Bäckersfrau, die ihr Brot und im Winter Briketts geschenkt habe, von einer Wohnung, die sie für 40 Franken mieten konnte. «Ich habe immer den direkten Kontakt zu den Menschen gesucht.» Zum Interview kommt sie mit ihrem neuen Buch (siehe Anhang) und einem Säckchen voll Birnen und Nüssen. Agnes Barmettler besitzt nicht viel, aber auch sie schenkt und gibt weiter. Heute lebt sie in einem Haus auf dem Land mit wundervollem Garten, das sie dank ihrer Mutter kaufen konnte. Sie hatte nie viel Geld, aber das Wenige hat gereicht.
Grossmutter wäre Agnes Barmettler gerne geworden. Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt. Eines Tages sagte sie sich: «So, das bringst du jetzt hinter dich.» Wie hat sie das geschafft? «Ich habe einfach alle Kinder gern. Das ist das einfachste der Welt.» Sie geniesse die Kinder der eigenen Familie, von Nachbarn und Freunden: «So kommst du automatisch zu Grosskindern.»
NB. Zum Buch: Agnes Barmettler, Patricia Bieder und Agnes Barmettler (Hrsg), Scheidegger & Spiess 1919.
Vom 25.1. bis 15.3.2020 stellt Agnes Barmettler ihre Bilder in der akku Kunstplattform in Emmen aus.
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