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«Ech cha met em Herrgott ned wättere»

Agnes Fuchs-Pfyl erlebt Schreckliches in ihrem Leben und behält trotzdem ihr Gottvertrauen

Text und Foto: Bernadette Kurmann

Agnes Fuchs-Pfyl hat zehn Kinder gross gezogen. Nur eines von ihnen ist ihr eigenes. Sie ist eine gute Schülerin, doch in der Schule gefällt es ihr nicht. Zu oft langweilt sie sich, weil die Buben den Stoff nur langsam begreifen. Sie liebt die Haus- und Handarbeit und will arbeiten wie ihre Mutter. «Sie hat Tag und Nacht geschuftet.» Ihre Vorbilder sind die älteren Schwestern, die in der Fremde «dingen». Mit 17 Jahren sucht sie eine Stelle als Magd und kommt auf einem prächtigen Hof im Kanton Zug zu einer Familie mit drei Mädchen. Agnes heiratet zweimal. Den ersten Ehemann verliert sie nach einem furchtbaren Unglück. Der zweite ist der Mann ihrer Schwester, die während der Schwangerschaft von sechs Kindern wegstirbt. «Ich wusste, das ist mein nächster Auftrag.»

(Fortsetzung)

Agnes ist das siebte Kind der Grossfamilie Pfyl. Die Kindheit der zehn Geschwister auf dem kleinen Hof in Muotathal ist bescheiden und gleichzeitig mit Zufriedenheit verbunden. Das Essen ist einfach. «Manchmal frage ich mich, wovon wir gelebt haben.» Im Winter, wenn es eisig kalt ist, gefriert in den Schlafzimmern der Urin im Nachttopf. Die Familie hält sich dann in der Stube mit dem Kachelofen auf. Dort beten sie, erzählen vom Erlebten, spielen, und vor allem singen sie miteinander. Die Grossmutter ist eine gute Sängerin und begleitet die Kinderschar bis zu ihrem Tod auf der Gitarre. In der Schule langweilt sich Agnes, deshalb möchte sie die Sekundarschule nicht besuchen. Sie will Geld verdienen wie ihre Schwestern. «Das war für alle Familien ganz normal.» Mit vierzehn führt sie den Haushalt einer Nachbarin, die gerade ein Kind geboren hat. Sie kocht, putzt, wäscht, glättet. «Ich machte alles ganz allein, ich kann es heute fast nicht glauben.»

Die erste Arbeitsstelle
Ihre erste Stelle findet sie 1956 durch ein Inserat in der Bauernzeitung. Die Meistersleute kommen aus dem Kanton Zug und holen Agnes per Auto ab. «Ein Auto war damals eine gewaltige Sache.» Der neue Betrieb ist viel grösser als jener daheim. Neben der Viehzucht gibt es auch einen Obstbau. Die Familie besteht aus Grosseltern, Eltern, zwei Mädchen, Agnes und drei Knechten. «Ich konnte nicht länger drin hocken und lismen.» Bald ist die Meistersfrau zum dritten Mal schwanger und leidet oft an Venenentzündungen. Die Geburt verläuft gut. Nach einer Woche wird angekündigt, dass Mutter und Kind morgen heimkommen. Noch im Spital stirbt die Frau völlig überraschend an einer Embolie – mit 28 Jahren. Ein Schock. Es folgt endlose Trauer bei der Schwiegermutter, den Kindern und beim Ehemann. Agnes ist inzwischen 19 Jahre alt und eine wichtige Stütze für die Familie.

Plötzlich Meistersfrau
Seit dem tragischen Ereignis sind vier Jahre vergangen. «Es kam ganz langsam, doch ich spürte, dass der Meister mich mag.» Auch Agnes ist ein wenig verliebt. Als er sie fragt, ob sie ihn heiraten will, sagt sie spontan zu. Sie ist 23, er 19 Jahre älter. «Mich hat dieser Altersunterschied nie gestört.» Sie äussert den Wunsch, vor der Heirat die Bäuerinnenschule zu besuchen. Sie möchte ihrem Mann intellektuell ebenbürtig sein. Dieser mag nicht länger warten und meint: «Du beherrschst die Arbeiten einer Meistersfrau längst.» Als Kompromiss besucht sie für ein paar Wochen eine Haushaltungsschule. Die eigene Familie ist stolz auf Agnes: Die Heirat gilt als gute Partie. Doch die junge Frau fühlt sich in ihrer neuen Rolle nicht ganz wohl. Anfänglich wagt sie ihren einstigen Meister kaum beim Vornamen zu nennen. Die Schwiegermutter hatte schon früher alle Zügel in der Hand. Das bleibt nach der Heirat unverändert. «Ich stand immer unter ihr.» Agnes hat längst gelernt, sich ins harte Regime einzuordnen.

Das schreckliche Unglück
Die Jahre ziehen ins Feld. Sie liebt ihren Mann und dieser erwidert ihre Liebe. Zum ganz grossen Glück fehlen eigene Kinder. Ein Untersuch beim Arzt ergibt nichts Ungewöhnliches. Agnes denkt, sie könne halt keine Kinder bekommen. Sie arrangiert sich, denn die Jahre sind ausgefüllt mit viel Arbeit und der Liebe zu Mann und Kindern. Bis zu jenem Tag im August 1966 als ein Knecht zu ihr rennt und berichtet, ihr Mann, der Schwiegervater und ein anderer Knecht lägen in der Güllengrube. Als Agnes eintrifft, muss sie zusehen, wie ihr Ehemann stirbt. Ein Knecht war in die Grube gefallen, der Ehemann wollte ihn retten, dann der Schwiegervater. Nun sind alle tot. Agnes ist gelähmt vor Trauer. «Ich dachte, ich könnte nie mehr singen.» Am nächsten Morgen hat die Schwiegermutter neue Pläne. Sie will den Bauernhof behalten. «Wir zwei Frauen schaffen das.» Agnes möchte wegrennen, den Hof verlassen. Sie schweigt und bleibt. Sie tut das den Mädchen zu liebe. Sie kann sie in dieser schweren Situation nicht alleine lassen.

Das Leben geht weiter
Langsam kehrt wieder der Alltag ein. Die Schwiegermutter stellt einen neuen Knecht ein, der seine Arbeit zum Wohlwollen der gesamten Familie erfüllt. Die Mädchen verlassen die Schule, erlernen Berufe. Die Schwiegermutter verlässt den Hof. Sieben Jahre nach dem Tod ihres Mannes tritt Agnes den Bauernhof an den Knecht ab. Sie ist jetzt dreiunddreissig und denkt, irgendwo eine neue Stelle anzunehmen. Sie geht zu Vorstellungsgesprächen. Es ergibt sich nichts Konkretes. An einem Morgen in der Früh ruft der Schwager Martin Fuchs an. «Rosa ist in der Nacht gestorben.» Rosa ist Agnes' Lieblingsschwester, nur gerade zwei Jahre älter als sie. Sie wohnt in Brunnen auf einem Bauernhof, hat sechs Kinder und geht mit dem siebten schwanger. «Ich wusste, dass mich der Herrgott dorthin führt.» Ein Jahr nach dem Tod der Schwester heiraten Agnes und Martin. Es ist Liebe gepaart mit Vernunft. «Er musste jemand für die Kinder und den Haushalt haben.»

Mutter von sieben Kindern
Bei der zweiten Heirat ist Agnes 34 Jahre alt, Bäuerin und Mutter von sechs Kindern im Alter zwischen zwei und dreizehn Jahren. Diese akzeptieren die neue Mutter schnell. Doch die Anfangszeit ist nicht einfach. Die Meinungen des Ehepaars liegen manchmal auseinander. Agnes möchte, dass sich die Kinder höflich bedanken; ihr Mann findet,das sei unnötig. Wieder passt sich die junge Frau an. Dann wird Agnes unerwartet schwanger. «Ich habe nicht gejubelt. Ich dachte, ich hätte genug Kinder.» Nach dem ersten Schock wächst die Freude über das eigene Kind. «Ich hatte so grosse Freude. Jedes Mal, wenn das Baby erwachte, war ich glücklich.» Dann erfüllt sich ein zweiter Traum. Agnes absolviert ihre erste und einzige Ausbildung und erhält das Diplom zur Haushaltsleiterin. Sie darf nun eigene Lehrtöchter ausbilden. «Es ist mir wichtig, dass diese Ausbildung in meiner Geschichte erwähnt wird.»

Innovativ und arbeitsam
Agnes und Martin harmonieren immer besser. Beide sind Chrampfer. Martin ist ein innovativer Bauer mit stets neuen Ideen. Agnes an seiner Seite hilft ihm, diese umzusetzen. Martin ergänzt die Viehzucht mit einer Schweinemast. Seine Frau hat einen grünen Daumen und liebt die Gartenarbeit. Agnes gehört zu den ersten, die ihr Gemüse auf den Markt tragen. Später kultivieren die beiden mit viel Erfolg eine Erdbeerplantage. Der Sohn zeigt Interesse an der Landwirtschaft. Er soll Verantwortung übernehmen, und die Eltern übertragen ihm vorerst die Viehzucht. Die Schweinemast und den Garten behalten sie bis zur Pensionierung.

Der Blick zurück
Im kommenden Jahr wird Agnes Fuchs-Pfyl achtzig Jahre alt. Sie ist zufrieden und freut sich über den Werdegang all ihrer Kinder. Sie hat 31 Grosskinder und 16 Urgrosskinder. Vor bald zehn Jahren ist das Ehepaar Fuchs in eine kleine Wohnung gezogen. Sie unternehmen viel miteinander und geniessen das Leben. Agnes schaut auf ein reiches Leben zurück, in das auch Trauriges verwebt ist. Wenn sie sich zurückerinnert, muss sie manchmal weinen. Dann sagt sie tapfer: «Ech cha met em Herrgott ned wättere.»

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