Schliessen

Agil, neugierig, offen bis ins hohe Alter.

«Ich wusste, dass ich nie Kinder haben würde»
«Ich wusste, dass ich nie Kinder haben würde»

Foto und Text: Bernadette Kurmann

Eigentlich wollte Kathrin Buffon (72) Pianistin werden, doch die Eltern hatten dafür kein Geld. Sie sollte verdienen und Kinder gebären. Das Schicksal hatte mit ihr aber ganz anderes vor. Mit zwanzig erkrankte sie an Myasthenia gravis (Muskelschwäche). Sie wusste urplötzlich, dass sie nie Kinder haben würde. Ansonsten liess sie sich nicht einschränken: Sie nahm Abschied von der Ausbildung zur Krankenschwester, liess sich fürs Kaufmännische ausbilden und arbeitete Teilzeit. Den Rest finanzierte eine halbe IV-Rente. Daneben lernte sie reiten, machte Jahrzehnte lang Aikido. Ihre Passion sind Hunde. Sie begann erfolgreich zu züchten und wanderte nach Frankreich aus. Vor zehn Jahren kam sie in die Schweiz zurück, entdeckt das Harfenspiel und hat neue Pläne.

(Fortsetzung)

Kathrin Buffons Kindheit ist schwierig. Ihr Vater stammt aus Neapel und ist ein Macho durch und durch. Bruder Franz gilt ihm alles und ist sein Liebling. Kathrin ist seiner Meinung nach dazu geschaffen, im Haushalt zu helfen und den Männern zu dienen. Bringt der Bruder seine Freundin heim, ist es Kathrin, die ihr das eigene Zimmer zur Verfügung stellen muss.

Beide Kinder dürfen Klavierstunden besuchen. Der Bruder schmeisst die Lektionen bald hin, Kathrin besucht sie zehn Jahre lang und würde gerne Pianistin werden. Dafür hat der Vater kein Gehör: «Du gehst arbeiten und später wirst du Kinder haben.» Um Geld zu verdienen, macht sie die Ausbildung zur Zahnarztgehilfin (heute Praxisassistentin). Die Krankenschwesternschule, ihr eigentliches Ziel, würde kosten. Vom Lehrlingslohn beim Zahnarzt kann sie sich durchbringen.

Nichts wie weg!
Sobald sie 18 ist, verlässt sie ihr Elternhaus und zieht als Au Pair nach London. Von dort aus meldet sie sich bei der Krankenschwesternschule in Winterthur an. Während der Ausbildung im ersten Lehrjahr überfällt ihren Körper eine endlose Müdigkeit. Sie kann sich kaum für die Arbeit aufraffen. Man wirft ihr vor, sie sei faul, simuliere oder sei hysterisch oder psychisch krank. Das setzt Kathrin so sehr zu, dass sie eines Tages «eine Dummheit macht» und zu Medikamenten greift. Sie wird psychiatrisch abgeklärt, doch alles ist in Ordnung. Sie wird in Zürich einer Generaluntersuchung unterzogen, und heraus stellt sich die Krankheit «Myasthenia gravis pseudoparalytica». Bei dieser Krankheit ist die Übertragung vom Gehirn zu den Muskeln gestört, eine Fehlfunktion des Immunsystems. Die Auswirkungen können mit Medikamenten in Schach gehalten werden. Kathrin Buffon kennt diese Krankheit von der Grossmutter. Sie sass fast ein Leben lang im Rollstuhl. Die Krankheit hatte sich bei ihr auf die Beine ausgewirkt. Kathrin hat Probleme im Halsbereich, kann oft nicht sprechen und schlucken. Die Diagnose ist für Kathrin eine Erlösung. Sie simuliert nicht, ist nicht hysterisch und nicht psychisch krank. Spontan entscheidet sie, keine Kinder zu bekommen. In medizinischen Büchern hat sie gelesen, dass diese oft mit Geburtsfehlern und inneren Krankheiten zur Welt kommen.

Ausbildung nach Ausbildung
Ihre Krankheit ist ein Geburtsgebrechen, ein Fall für die IV. Diese bezahlt ihr die Ausbildung zur Kaufmännischen Angestellten und eine Dolmetscherschule in St. Gallen. Kathrin Buffon hätte ihre Sprachen Englisch und Französisch gerne mündlich perfektioniert, doch die IV stoppt das Vorhaben. So muss die stets aktive und neugierige Frau Büroarbeit im Halbpensum übernehmen. «Ich war total unterfordert, denn eine gute Arbeit in einem Halbpensum gab es nicht.» Sie beginnt zu reiten, macht dreissig Jahre lang Aikido. Ihre grosse Leidenschaft gilt den Hunden. Sie züchtet Hunde. Dieser Tätigkeit bleibt sie ein Leben lang treu. Natürlich lernt sie auch Männer kennen. „Mit meiner Krankheit wollte ich niemanden belasten.» Gleichzeitig hatte sie ihr Elternhaus geprägt: «Ich wollte keinen Chef zuhause.» Der Entschluss, keine Kinder zu haben, bleibt unverändert. Über die Arbeit mit den Hunden lernt sie ihren Freund kennen. Heiraten wollen die beiden nicht, und ihr Freund akzeptiert die Situation ohne Kinder.

Allein nach Frankreich
Kathrin ist um die fünfzig, als sie in der European Alliance of Neuromuscular Disorders Associations (EAMDA) einen Professor kennenlernt, der sich intensiv mit ihrer Krankheit auseinandergesetzt hat. Er verschreibt ihr eine starke Dosis Cortison. Diese Therapie hat wundersame Auswirkungen. Bald fühlt sich Kathrin wie geheilt. Sie ist nun um die Fünfzig und voller Tatendrang, aber Arbeit für sie gibt es immer weniger. Dann sterben ihr langjähriger Freund und die Mutter. Kathrin Buffon wäre nicht Kathrin Buffon, wäre sie nicht in der Lage, aus dieser schwierigen Lage etwas ganz Neues zu schaffen. Kurzerhand entscheidet sie, in Frankreich einen kleinen Hof zu kaufen und dort ganz auf das Züchten von Hunden zu setzen. Den Hof im Burgund finanziert sie mit den Pensionskassengeldern: «Ich versteuerte in der Schweiz, mit der IV-Rente konnte ich in Frankreich relativ gut leben.» Ab 1999 züchtet sie zehn Jahre lang erfolgreich. Bisweilen hält sie zehn Zuchthündinnen. Den Unterhalt der Hunde finanziert sie mit dem Verkauf der Welpen.

Neuanfang in der Schweiz
Immer näher kommt das Pensionsalter. Sie muss sich überlegen, wo sie den Lebensabend verbringen will: «Als alleinstehende Frau ist es in Frankreich schwierig.» Tatsächlich kündigt die Bank der Pensionärin die Hypothek und will den Hof ohne Bezahlung an sich reissen. Das weckt in Kathrin Kämpfergeist. In ihrer Not schreibt sie der damaligen Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und bittet um Hilfe. Diese kommt postwendend. Die Schweizerbotschaft in Lyon verhilft Kathrin Buffon zu ihrem Recht. Mit dem bezahlten Geld kann sie den Umzug und den Neuanfang in der Schweiz finanzieren. Der Abschied fällt ihr schwer, nur drei Hunde kann sie mitnehmen. Zurück lässt sie eine Art Heimat mit vielen Freundschaften.

Zurück zur Musik
Seit zehn Jahren ist Kathrin Buffon zurück. Mit neuem Elan züchtet sie wieder Hunde. Oft wird das der Nachbarschaft zu viel, und sie muss umziehen. Wieder hat Kathrin ein neues Hobby: Das Harfenspiel. Obwohl sie auf dem Existenzminimum lebt, leistet sie sich Harfenunterricht. «Das muss einfach sein.» Kathrin macht keine halben Sachen. Seit Kurzem ist sie im Kanton Luzern heimisch. Dort hat sie ein abgelegenes Bauernhaus gemietet und singt in einem Chor in Luzern. Nein, Angst hat sie keine: „Ich habe ja meine Hunde.“ Und doch beschäftigt sie ihre Zukunft, die Frage, wie lange sie es noch alleine im geräumigen Haus und mit den Hunden schafft. Kürzlich musste sie sich einer grossen Operation unterziehen. «Solange ich kann, bleibe ich hier.» Und weil ich spüre, dass Kathrin nie ruhig sitzen kann und immer wieder ein neues Projekt ausgeheckt, frage ich: «Was planst du als Nächstes?» Etwas verlegen sagt sie: «Ich weiss nicht, ob ich eine Kontaktanzeige aufgeben soll.» Das ist Kathrin, wie sie leibt und lebt: agil, neugierig, offen für Neues bis ins hohe Alter.

Wir verwenden Cookies und ähnliche Technologien, um das Nutzererlebnis auf unserer Website zu verbessern. Durch die weitere Nutzung dieser Website stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies und ähnlichen Technologien zu. Mehr erfahren