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Kopie oder Original?

Bernadette Kurmann

Mein jüngster Bruder ist geistig behindert. Er hat mich stark gemacht. Er hat mich gelehrt, nicht darauf zu achten, wenn andere Menschen tuscheln und mich schräg anschauen. Von klein auf lernte ich dank ihm, dass mich das nicht kümmern muss. Sie schauten ohnehin: Wenn wir im Dorf spazierten, später, wenn meine Kinder mit dem grossen Onkel auf dem Spielplatz herumturnten. Die Leute schauten, weil sie es merkwürdig fanden, dass ich diesen eigenartigen Mann (vielleicht sogar mein Ehemann?) an meiner Seite hatte. All das kümmerte mich nicht. Das war keine Heldinnentat, denn dank meines Bruders lernte ich von klein auf ganz selbstverständlich, meinen Weg zu gehen, und für das einzutreten, was mir wichtig ist.

(Fortsetzung)

Ich bin in einer grossen Familie aufgewachsen. Meine Eltern verstanden es, uns Geschwistern zu vermitteln, dass Bruno genauso zu uns gehört wie alle anderen Kinder. Ich bin zehn Jahre älter als er. Mir wurde die Aufgabe einer „zweiten Mutter“ zu teil. Nie hätte ich zugelassen, dass irgendetwas Schlimmes mit ihm passiert. Ich hätte bis aufs Letzte für ihn gekämpft.

Bruno hat ein schweres Los gezogen. Ein eigenständiges Leben kennt er nicht. Er lebte fast sein Leben lang in Heimen. Er musste sich ständig anpassen. Ich hätte nie mit ihm tauschen wollen. Aber nie wäre mir in den Sinn gekommen zu denken, sein Leben sei wertlos. Ohne viel zu überlegen, war er für mich richtig, wie er war: manchmal mühsam, manchmal schwierig, manchmal komisch oder unglaublich lustig. Übrigens: Mein Bruder ist ein wahrer Künstler. Er malt Bilder in den wunderschönsten Farbkompositionen.

Kleinwuchs als Behinderung
Neulich las ich einen Bericht von Tom Shakespeare im NZZ Folio, meiner Lieblingszeitschrift. Dieser Artikel ging mir unter die Haut. Tom ist kleinwüchsig geboren – mit sogenannter Achondroplasie. Bereits sein Vater William war kleinwüchsig. Der Grossvater konnte William nie akzeptieren. Ganz anders die Grossmutter. „Unsere Beziehung war geprägt von grosser Liebe und Verständnis. Sie kannte meine Probleme und nahm sie ernst, schrieb sein Vater in einem Tagebuch.

Der Grossvater schämte sich für seinen Sohn und riet ihm, mit seiner Behinderung doch keine Kinder zu haben. Er machte ihm Vorwürfe, schalt ihn unverantwortlich, als dieser sich anders entschied. William war Arzt geworden. Die Kinder liebten „den kleinen Doktor“ über alles. Er lernte eine wunderbare Frau kennen, und sie entschieden sich für eine Familie. Das Risiko, dass ihr Kind ebenfalls kleinwüchsig werden würde, lag bei 50 Prozent. So kam es: Tom ist kleinwüchsig geboren, seine Schwester nicht.

Von der Mutter geliebt und akzeptiert
Tom wuchs heran, fühlte sich kaum behindert und lernte schnell. Er hatte wunderbare Eltern, vor allem seine normalwüchsige Mutter liebte er. Von ihr erzählt er folgende Anekdote: Er war beim Coiffeur, und sie holte ihn dort ab. Beim Eintreten fragte sie: „Lässt sich hier gerade jemand die Haare schneiden?“ „Ja, ein Gentleman Madam“, antwortete die Coiffeuse. Meine Mutter: „Ein kleiner Gentleman?“ „Ja, Madam.“ „Dank diesem Gespräch wusste ich, dass sie vollkommen verstanden hatte, was ich war; ein kleiner Gentleman, nicht mehr und nicht weniger.“

Entscheid für eigene Kinder
Tom Shakespeare studierte Sozialwissenschaften und ist heute ein angesehener Professor an einer Universität in England. Er und seine Frau fanden, dass sich mit Kleinwuchs ein normales, glückliches und erfolgreiches Leben führen lässt. Deshalb sahen sie keinen Grund, auf Kinder zu verzichten. Als seine Frau Susan schwanger war, war inzwischen die Gentherapie entdeckt. Die Medizin testete die Schwangere ständig. Bald stellte sich heraus, dass ihr Kind ebenfalls kleinwüchsig sein würde. Die Ärzte drängten zu einem Abbruch. Das Ehepaar entschied sich dagegen und bekam sogar ein weiteres Kind, eine Tochter. Als der Vater mit dem Buggy eines Tages über den Campus an den Kollegen vorbeifuhr, hörte er einen Freund zu den anderen sagen: «Wie konnte Tom nur Kinder auf die Welt setzen.» Für ihn war das ein böses Erwachen: «Du glaubst, akzeptiert zu werden für das, was du bist, und dann merkst du, dass die Leute finden, es sollte nicht mehr Menschen auf der Welt geben wie dich.»

Behinderung gleich Mensch?
Tom Shakespeare findet es problematisch, eine Behinderung mit dem Menschen an sich zu verwechseln und zu glauben, sie sei die einzige Eigenschaft, die diese Person ausmacht. Rund 15 Prozent der Bevölkerung oder eine halbe Milliarde Menschen weltweit habe eine ernsthafte Behinderung. „Nicht nur ich habe genetische Mängel. Wir alle haben ganz eigene genetische Mutationen. Jeder könnte Krankheiten vererben.“ Geboren zu werden heisse, verletzlich zu sein, und leben bedeute Verfall. Zum Schluss zitiert Tom Shakespeare seinen Freund und Gerontologen Tom Krikwood: «Wir werden als Kopie geboren, aber wir sterben als Original.» Das gilt für alle Menschen, auch für Tom Shakespeare und meinen Bruder.

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