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Alles, was wir haben, ist ein Geschenk

Agi Gehrig: «In meinem Leben geht es immer um Stärkung und Eigenständigkeit. Wenn Frauen und Kinder lernen, für sich einzustehen, ist das Heilung.»
Agi Gehrig: «In meinem Leben geht es immer um Stärkung und Eigenständigkeit. Wenn Frauen und Kinder lernen, für sich einzustehen, ist das Heilung.»

Text & Foto: Monika Fischer

Agi Gehrig( 59) betreibt mit ihren zwei Töchtern den vier Hektaren grossen Dönihof in Grosswangen. Bei der Arbeit auf den Tee- und Gemüsefeldern sind auch die beiden Enkelinnen, viereinhalb- und zweijährig, meistens dabei. Sie lernen früh die Pflanzen kennen, ein schonender Umgang mit der Natur ist für sie selbstverständlich. Gemeinsam mit anderen Kleinbäuerinnen und -bauern setzt sich Agi Gehrig in der Interessengemeinschaft «Lueg Jetzt» für eine ökologische, nachhaltige und daher beseelte Landwirtschaft ein. Sie berät Kolleginnen und Kollegen, denen diese Werte ebenso ein Anliegen sind. Zusätzlich begleitet sie im Auftrag einer Stiftung auch Frauen und Familien in Notsituationen auf dem Weg zu einem eigenständigen Leben.

(Fortsetzung)

Die Natur wertschätzen
Abgeschieden liegt der Hof Dönihus mitten in Feldern, Gemüse- und Kräuterkulturen. Neben der Scheune mit verschiedenen Maschinen steht das von Agi Gehrig selbst gebaute Lehm-Stroh-Haus. Das Einfamilienhaus mit Spielgeräten auf der anderen Seite weist auf die junge Familie ihrer Tochter hin. Auf den Feldern gedeihen verschiedene Teepflanzen, vor allem Pfeffer- und Apfelminze sowie Zitronenverbene. Auf Wunsch bauen die Frauen auch Heilpflanzen wie Brennessel, Löwenzahn und Rotklee an und verarbeiten sie mit Helferinnen zu Tee. Neben Urdinkel werden Rüebli, Kartoffeln, Randen, Spargeln und weitere Gemüse zur Selbstversorgung angebaut. Auf dem Pachtland stehen 121 Hochstammbäume. Die Produkte werden alle selber vermarktet, das Gemüse auf dem Samstagsmarkt in Sursee, die gedörrten Kräuter an Firmen wie Ricola, Dixa und Kennel verkauft. «Was wir nicht verkaufen können, schenken wir der Organisation ‚Tischlein deck dich’, damit auch deren Kunden von gesunder Nahrung profitieren können», freut sich Agi Gehrig.

Wertschätzung für naturnahe Landwirtschaft
Die Biobäuerin sprüht vor Begeisterung und Lebensfreude, wenn sie durch ihre Kulturen führt und erzählt. Zum Beispiel von der Hochzeit ihrer zweiten Tochter im Mai. «Nun hat mein verstorbener Ex-Mann doch noch den sehnlichst gewünschten Sohn bekommen», lacht sie mit gegen den Himmel gerichteten Händen. Der Schwiegersohn, ein Gemüsebauer, identifiziert sich ganz mit der Grundhaltung und Arbeit der drei Gehrig-Frauen im Dönihus. Deshalb nahm er bei der Heirat den Namen seiner Frau an. Auf dem Standesamt waren in der Coronazeit nur vier Personen zugelassen. Umso herzlicher war der Empfang auf dem Hof. Der Tisch für das Hochzeitsessen stand inmitten einer prächtigen Naturwiese.

«Wenn auch nur in kleinem Rahmen, war es ein wunderschönes Fest», schwärmt die Gastgeberin. Das Hochzeitspaar und die wenigen Gästen waren Teil der üppig blühenden Natur, konnten deren Duft spüren und wahrnehmen. «Das Land gehört uns nicht. Es wurde uns geschenkt, damit wir es einen Lebensabschnitt lang pflegen und weitergeben. Ein guter Boden ist die Voraussetzung für eine gesunde Nahrung. Die Natur schenkt allen langfristig genug zum Leben, wenn wir nicht alles aus ihr herauspressen, sondern sorgfältig mit ihr umgehen», ist Agi Gehrig überzeugt.

In diesem Sinne ist die Coronakrise für sie eine Chance. «Viele Menschen spazieren bei uns vorbei und lernen die Natur wieder schätzen. Wir heissen sie herzlich willkommen und freuen uns, wenn sie an unserem Weiher ihr Picknick essen. Wir Bauern müssen uns öffnen und mit den Leuten ins Gespräch kommen. Nur so können wir ihr Verständnis für saisonale Produkte schaffen.»

Für sich hinstehen
Den Bezug zur Landwirtschaft hat Agi Gehrig quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Aufgewachsen auf einem kleinen Betrieb, half sie der Mutter schon als Zwölfjährige beim Melken und Heuen. Sie machte eine KV-Lehre und wollte eigentlich nie heiraten. Schon als Jugendliche wollte sie die Welt retten und sich für andere Menschen einsetzen. Nach mehreren erlebten Missbräuchen entschied sie: «Ich will mich nicht als Opfer sehen.» Vielmehr weckten die schmerzlichen Erfahrungen ihre Widerstandskraft. Sie gaben ihr die nötige Selbstsicherheit, für sich hin zu stehen und sich nicht alles bieten lassen.

Berührt von seinem Schicksal, wollte sie auch ihrem zukünftigen Mann helfen. Als aussereheliches Kind war dieser in einem Kinderheim und als Verdingbub aufgewachsen. Nach dem Tod seines Vaters erbte er die kleine Liegenschaft Dönihus und wollte diese eigentlich verkaufen. Er versprach, dies nicht zu tun, wenn sie mit ihm dort wohnen komme. Sie war 17, als sie mit ihrem Partner das baufällige Haus einigermassen zurechtmachte und dort einzog. Zielstrebig entwarf sie Pläne für den Bau eines neuen Hauses. Weil es sonst die Baubewilligung nicht bekommen hätte, heiratete das Paar.

Mit 20 bekam Agi Gehrig die erste, drei Jahre später die zweite Tochter. Neben der Arbeit auf dem kleinen Betrieb arbeitete sie auswärts und baute den Vertrieb einer Tageszeitung auf. Ihr Mann war immer auf der Suche. Er wollte es vor allem schön haben, nicht so viel arbeiten und erhoffte sich vom Auswandern ein bequemeres Leben. Sie wollte nicht mitgehen, sondern in Absprache mit den Töchtern auf dem Hof bleiben und willigte in die Scheidung ein. 1993 übernahm sie den Betrieb von ihrem Ex-Mann. Sie stand sehr früh auf und fuhr zur Arbeit. Gegen elf war sie wieder zurück im Dönihus, betreute die Kinder und leistete die nötige Arbeit auf dem Hof.

Schlüsselerlebnis im Tibet
Ihr Schlüsselerlebnis hatte sie 2009 während einer Auszeit im Tibet. Sie stellte fest, mit wie wenig Boden dort die Familien ihr Auskommen fristen. «Auf einer Fläche, die wir für den Rasen vor dem Haus haben, bauen die Tibeter Getreide an, das für ein ganzes Jahr reicht – und das auf über 4000 Metern Höhe.» Sie kehrte heim, kündigte ihre Stelle, verkaufte das Auto und stellte ihr Leben um. Gemeinsam mit ihren Töchtern, der Landwirtin Nadine und Lilian, Fachfrau Betreuung Kind, begann sie, selber Kräuter und Gemüse anzubauen und zu vermarkten. Weil das Auskommen nicht zum Leben reichte, fand sie eine neue Arbeitsstelle in der Gewaltprävention für Frauen. Sie gab Kurse, führte Projekte durch und begleitete auf freiwilliger Basis Frauen in Notsituationen.

Ausprobieren und Erfahrungen weitergeben
Der Ausspruch «Es geht nicht» ist Agi Gehrig fremd. Sie möchte immer wieder Neues ausprobieren und weitergeben. «Es hat wohl damit zu tun, dass ich Kampfsportlerin war», lacht die ehemalige Handballspielerin und Schweizermeisterin im Karate. Sie freute sich über stärkere Gegnerinnen. Jeder verlorene Kampf war für sie ein Ansporn, zu lernen und besser zu werden. Ähnlich sieht sie es in der Landwirtschaft. Entgegen Meinungen, das gehe doch nicht, wachsen und reifen bei ihr auf fast 700 Metern Bittermandeln, Süsskastanien und Wassermelonen. Es ist ihr ebenfalls gelungen, Kartoffeln, Randen und Rüben ohne die graue Energie der Kühlhäuser durch den Winter zu bringen. Mit Steinmehl vom Napf bestreut, werden sie umgeben von Stroh gelagert und bleiben bis im Juni frisch. «Damit möchten wir uraltes Wissen unserer Vorfahren, das sonst im Wohlstand vergessen geht, hervorholen und weitergeben, wären wir doch sonst bei einem längeren Stromausfall völlig verloren.»

Sie betont: «Obwohl ich Kampfsportlerin war, will ich nicht mehr gegen etwas ankämpfen, sondern mich mit viel Liebe für das einsetzen, was mir wichtig ist. Dabei sind mir Respekt gegenüber anderen Menschen und ihren Erfahrungen und Meinungen wichtig.» Den Bezug zur Natur gibt sie auch all den Freiwilligen weiter, die tageweise auf dem Betrieb mithelfen. «Es sind bis 14 Personen, die mit uns arbeiten, essen und am Abend die nach der Ernte voll gefüllten Taschen dankbar nach Hause tragen.»

Interessengemeinschaft «Lueg Jetzt»
Bald kam Agi Gehrig in Kontakt mit jungen Bauernfamilien, die mit ihren kleinen Betrieben nicht überleben konnten. Sie begann diese Kontakte freudig zu pflegen.
Gemeinsam wurde nach Nischen zum Überleben gesucht. So entstand die bäuerliche Interessengemeinschaft «Lueg jetzt» zuerst als sog. einfache Gesellschaft.
Agi Gehrig sucht nach Kontingenten und vermittelt sie den einzelnen Bäuerinnen und Bauern. Diese machen den Vertrag mit den Auftraggebern*Innen und rechnen mit diesen selber ab. So entfällt der Zwischenhandel, die Landwirte erhalten den vollen Preis. Die einzelnen Betriebe müssen sich auch die verschiedenen nötigen Maschinen nicht selber anschaffen. Vielmehr werden diese untereinander nicht nur ausgeliehen, sondern man hilft sich auch gegenseitig bei der Arbeit aus.
2016 wurde auch der gleichnamige Trägerverein gegründet. Aktuell umfasst die IG mit der Geschäftsführerin Agi Gehrig 12 selbständige Betriebe, drei davon werden von Frauen geführt. «Einzeln sind wir zwar klein. Gemeinsam sind wir leistungsfähig und können auch grössere Mengen liefern», freut sich Agi. Sie begegnet immer mehr jungen Menschen, die wieder nah an der Natur leben möchten und mit wenig zufrieden sind.

Nie mehr Opfer sein
Vor zwei Jahren konnte sie Dank einer Stiftung zusätzlich eine Beratungsstelle für Frauen und Familien in Not aufbauen und ihre auswärtige Arbeit aufgeben.

Frauen müssen ihr Leben in ihre eigene Hand nehmen. Davon ist Agi Gehrig aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen überzeugt. «Wer nicht Opfer sein will, ist es nicht». Sie kennt zahlreiche Beispiele von alleinerziehenden Frauen, die sich teilweise mit mehreren kleinen Jobs über Wasser halten, um nicht von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Es braucht wenig, bis sie in eine Notsituation geraten. Wenn sie z.B. wegen der Coronakrise eine Betreuungsmöglichkeit für ihr Schulkind organisieren müssen. Oder nur 80% vom sonst schon geringen Lohn bekommen. Sie erzählt von einer alleinerziehenden Mutter dreier Kinder, die als Nachtwache arbeitet und monatlich mit 3200 Franken durchkommen muss. «Es ist erstaunlich, mit wie wenig Geld viele Menschen auskommen müssen und sich trotz ihrem Einsatz schämen, sich zu wehren. Diese Menschen wollen wir erreichen. Je mehr ich von ihnen weiss, umso besser kann ich ihre Anliegen in einem Gesuch vertreten.» Doch möchte sie die Frauen nicht nur finanziell unterstützen. Vielmehr ermuntert sie diese, ausgehend von ihren Interessen und Fähigkeiten noch eine Ausbildung zu machen, um später selbständig zu sein. Sie setzt sich bei der Stiftung für die Übernahme der Kosten ein und begleitet die Frauen, solange es nötig ist.

Agi Gehrig bezeichnet sich selber als Macherin. «Ich rede nicht nur, ich handle.» Neben der Natur ist für sie die Meditation eine Kraftquelle. Energie bekommt sie auch im Zusammensein mit anderen Menschen. «Je mehr ich gebe, umso mehr bekomme ich. Besonders glücklich bin ich, wenn mit der Familie, unseren Mitarbeitenden und Freiwilligen gemeinsam arbeiten, essen, lachen und singen kann.»

Weiterführende Links
www.luegjetzt.ch
www.doenihus.ch


Am 12. Juni 2018 haben wir Frauen der Arbeitsgruppe Integrität der GrossmütterRevolution Agi Gehrig besucht.
Am 12. Juni 2018 haben wir Frauen der Arbeitsgruppe Integrität der GrossmütterRevolution Agi Gehrig besucht.

Auf unserem Ausflug zeigt uns Agi Gehrig ihren Betrieb und stellt uns die Ziele und die Arbeit ihrer Interessengemeinschaft anschaulich vor. Nach einem köstlichen Mittagessen (Brennesselsuppe, warme Spargeln und Tomaten auf Blattsalat, Ofenkartoffeln) aus eigenem, biologisch gezogenem Gemüse, öffnet Agi für uns sogar das selber gebaute Lehm-Stroh-Haus.

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