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Perspektive Care-Gesellschaft: Plädoyer für eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrages

Monika Fischer

Wird das Leben in unserer Gesellschaft nach Corona weiter gehen wie bisher? Viele Menschen fühlten vor sich vor der Pandemie ohnmächtig angesichts der Ausbeutung von Mensch und Natur, des Klimawandels und der ungerecht verteilten Güter auf dieser Welt. Sie erhoffen sich einen Wandel. Dazu wurden verschiedene Vorschläge erarbeitet. Unter dem Titel «Perspektive Care-Gesellschaft» hat das Denknetz (www.denknetz.ch) ein Plädoyer für eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrages entworfen. Die vier Wegweiser Care, Kooperation, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit geben die Richtung für einen nachhaltigen Wechsel. Ideen und Vorschläge werden erst wirksam durch Handeln. Mit Ihrer Unterzeichnung verhelfen Sie dem hier leicht gekürzten Plädoyer zu mehr Durchschlagkraft.

(Fortsetzung)

Eine verwundete Welt
Die Corona-Krise schärft den Blick auf eine Welt, die gleichermassen globalisiert und zerrissen ist: Eine Welt von unermesslichen globalen Ungleichheiten, von stark bedrängten oder nicht vorhandenen sozialen Einrichtungen, deregulierten Märkten, monopolistischen Konzernen, eine Welt des ungehemmten Standortwettbewerbs und des Zerfalls von Steuereinnahmen. Eine Welt, die viel verwundbarer ist, als es noch vor Kurzem den Anschein machte. Die aktuellen Krisen werden die Welt tiefgreifend verändern. Die Wirkungen der Klimaerhitzung, der Verschmutzung der Meere und des Verlusts an Biodiversität sind vielleicht weniger abrupt als die Corona-Pandemie, aber deswegen nicht weniger bedrohlich. Ohne einen markanten Richtungswechsel in der Politik werden sich die ohnehin schon immensen globalen Ungerechtigkeiten noch einmal erheblich verschärfen. Die Corona-Krise wirft ein Schlaglicht auf diese Risse und Verwerfungen. Gleichzeitig werden nun aber auch enorme materielle Ressourcen und soziale Energien mobilisiert. Solidarität und Kooperation erhalten eine Bedeutung, wie sie in der neueren Geschichte beispiellos ist. Gesellschaften und Staaten erweisen sich in einer Weise als handlungs- und wandlungsfähig, die im Umgang mit andern Krisen neue Perspektiven eröffnet. Diese Perspektiven lassen sich aber nur mit einem entschlossenen politischen Richtungswechsel verwirklichen. Wir brauchen einen erneuerten Gesellschaftsvertrag, der überall in der Welt Zustimmung finden kann. Vier Wegweiser sollen diesem Vertrag seine Richtung geben: Care, Kooperation, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Care
Der pandemiebedingte Lockdown hat uns vor Augen geführt, dass vorübergehend praktisch alles geschlossen werden kann, nur nicht, was mit der unmittelbaren Sorge für das tägliche Leben zu tun hat: Die Gesundheitsversorgung, die Betreuung von Kindern und gebrechlichen Menschen, die Sorge für Tiere und Pflanzen, die Sorge für die tägliche Nahrung, für Sicherheit und Hygiene. Die dafür nötigen Arbeiten bilden die Basis für menschliche Gemeinschaften, weil wir alle auf die Fürsorge durch andere angewiesen sind. Dennoch werden sie in normalen Zeiten gering geschätzt und oft schlecht bezahlt, und es ist kein Zufall, dass sie überwiegend von Frauen respektive von Migrant*innen geleistet werden. Doch ist es genau dieses Sich Kümmern, das zum Zentrum eines neuen Gesellschaftsvertrages werden muss. Der bezahlten und der nicht bezahlten Care-Arbeit in Haushalten, öffentlichen Diensten und in Unternehmen muss die Bedeutung zugesprochen werden, die sie tatsächlich haben. Dies ist auch aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit dringend geboten. Care muss aber auch als Paradigma in der ganzen Wirtschaft und Gesellschaft an die erste Stelle gesetzt werden: Als Sorgfalt im Umgang mit andern Menschen und Lebewesen, mit gesellschaftlichen Einrichtungen, mit den natürlichen Lebensräumen.

Kooperation
Die Corona-Krise öffnet vielen Leuten die Augen: Der Markt ist nicht die Lösung aller Probleme. Er bedrängt Mensch und Natur und beutet sie aus, wenn er brummt. Er versagt, wenn Krisen herrschen. Er spaltet die Welt in Arm und Reich. Er fördert eine nationalegoistische Politik, mit der die Menschen gegeneinander aufgebracht werden. Wir brauchen aber eine Welt, in der die Kooperation weit stärker gewichtet wird als heute. Wir brauchen eine wirksame lokale, regionale und globale Zusammenarbeit für die Eindämmung von Pandemien, für die Versorgung mit den nötigen Medikamenten, für den Aufbau und den Erhalt einer stabilen Gesundheitsversorgung, für die Bekämpfung der Klimaerhitzung, für eine gerechte Einkommens- und Reichtums-Verteilung. Die Basis für eine bessere Kooperation ist eine gestärkte Demokratie, die auch auf wirtschaftliche Belange ausgeweitet wird. Sie bietet die Grundlagen, um tragfähige Lösungen zu erarbeiten, bei denen niemand über den Tisch gezogen wird, und bei denen möglichst viele Menschen aktiv einbezogen werden.

Gerechtigkeit
Die Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat obszöne Ausmasse angenommen. Die Ballung von Macht und Reichtum erinnern an feudale Zeiten. Einige Zehntausend verprassen Millionen aus ihrer Portokasse, während die Hälfte der Weltbevölkerung über täglich weniger als fünfeinhalb Dollar verfügt und von der Hand in den Mund leben muss. Weltweit besitzen Männer 50 Prozent mehr Vermögen als Frauen. Die acht reichsten Männer der Welt verfügen zusammen über gleich viel Vermögen wie die 3,9 Milliarden Ärmsten. 2,1 Prozent der Schweizer*innen besitzen so viel wie die übrigen 97,9 Prozent2. Immer grössere Anteile des Reichtums fliessen dabei in spekulative Finanzmärkte statt für drängende gesellschaftliche Aufgaben verfügbar zu sein. Wir brauchen deshalb eine massive Rückverteilung des Reichtums von oben nach unten, vom globalen Norden in den globalen Süden und zugunsten der Frauen.

Nachhaltigkeit
Mehr Care, mehr Kooperation und mehr Gerechtigkeit sind unabdingbar, um die Klimaerhitzung, die Verschmutzung der Weltmeere, den Verlust an Biodiversität einzudämmen. Wir brauchen grundlegende Veränderungen in der Produktion, in der Finanzwelt und in den Konsumgewohnheiten, um weltweit nachhaltige, würdige und lebenswerte Verhältnisse schaffen zu können. Dafür brauchen wir unter anderem auch starke und nachhaltig gestaltete öffentliche Infrastrukturen und Dienste (Energie, Verkehr, Wasser, Kommunikation, (soziale) Sicherheit, Bildung, Gesundheitswesen).

Vordringliche Massnahmen
Der geforderte Richtungswechsel muss alle gesellschaftlichen Bereiche erfassen. Dazu gehört an erster Stelle eine entschlossene Wende in der Steuer- und Verteilungspolitik. Als unmittelbare Reaktion auf die aktuellen Krisen braucht es in der Schweiz auch eine Solidaritätssteuer. Diese Erträge sollen zur Hälfte im globalen Süden, zur Hälfte in der Schweiz eingesetzt werden, um Care zu stärken, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, den Klimaschutz voranzubringen.

Menschenrechte, insbesondere auch Frauenrechte, müssen immer und überall respektiert und verwirklicht werden. Namentlich sind die besonders verletzlichen Menschen und Gruppen, zum Beispiel Geflüchtete zu schützen. Ihr Zugang zu lebenswichtigen Basisdienstleistungen und zu Bildung muss gewährleistet sein. Die Gesundheitsversorgung muss auf eine neue, öffentliche und solidarische Basis gestellt werden. Wir brauchen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal. Kindertagesstätten müssen zu einem flächendeckenden öffentlichen Dienst in hoher Qualität ausgebaut werden.

Wir leben in einer Welt, die nur als eine Welt überleben wird
Die Weltgemeinschaft war noch nie so reich an Ressourcen, Technologien, Kenntnissen und Erfahrungen – und gleichzeitig so ungerecht, feindselig und sorglos im Umgang mit den natürlichen Grundlagen. Die Corona-Krise und die Klima-Krise machen nun deutlich, wie verletzlich eine Welt geworden ist, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht. Wenn wir nicht mehr und mehr in den Strudel dieser Krisen hinabgezogen werden wollen, müssen wir jetzt die Richtung wechseln. Dafür brauchen wir eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrags zugunsten von Care, Nachhaltigkeit und Solidarität – zugunsten einer lokalen und globalen Care-Gesellschaft.

Unterzeichnen auch Sie den neuen Gesellschaftsvertrag:
www.denknetz.ch/care-gesellschaft/

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