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Ich bin eine hoffnungslose Optimistin

«Ich hätte bis ans Ende meiner Tage zum ihm gehalten, wenn…»
«Ich hätte bis ans Ende meiner Tage zum ihm gehalten, wenn…»

Foto und Text: Bernadette Kurmann

Silvia Sticher* ist eine Stehauf-Frau. Sie lässt sich auch in ausweglosen Situationen nicht unterkriegen. Sie heiratet jung und bekommt innert kurzer Zeit drei Kinder. Ihr Mann ist im Beruf sehr erfolgreich. Privat hat er psychische Probleme, entwickelt verschiedene Phobien und wird deswegen immer mehr zum vierten Kind. „Ich hätte ans Ende meiner Tage zu ihm gehalten.“ Nach 22 Ehejahren entdeckt sie, dass er seit langem Bordelle besucht. „Dies ist ein heftiger Schlag in die Magengrube!“ „Ich habe das gebraucht“, sagt er. Es folgen Jahre der Ehetherapie und ein gehässiger Scheidungskrieg. Mit 47 verlässt Silvia ihren Mann und steht ohne Arbeit und Geld auf der Strasse. In dieser Zeit übernimmt sie jede Arbeit. „Es gab keine, die ich nicht gemacht hätte.“ Silvia ist energiegeladen und ideenreich. Schliesslich findet sie eine Anstellung bei einem guten Chef und auch eine neue Liebe.

(Fortsetzung)

Silvia wächst in einer Familie mit zwei sehr viel älteren Brüdern auf. „Ich war sozusagen ein Einzelkind.“ Der Vater ist gesellschaftlich anerkannt. Daheim ist er cholerisch und schlägt Frau und Tochter. Ihre Bezugsperson ist die Mutter, eine gute Mutter. „Leider hat sie mir vorgelebt, dass Frau kuscht und der Mann der Chef ist.“ Mutter hätte sich gerne scheiden lassen, was damals aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich war. Als Vater mit über 80 Jahren stirbt, ist niemand traurig, am wenigsten die Mutter.

Eine rebellische Schülerin
Silvia ist eine gute Schülerin, aber eine Minimalistin. Sie ist laut und vorwitzig. „Das tut mir heute leid, denn ich wurde oft falsch eingeschätzt. Ich lebte im Kampfmodus, habe aber durchaus eine sensible Seite.“ Der Vater entscheidet, dass sie Hochbauzeichnerin werden soll. Mit dem Lehrmeister hat sie Pech. Er ist ein anerkannter Kirchen-Renovator. Sie zeichnet nichts als Kirchenbänke, Kirchenfenster und Chorstühle. Sie, die dem Pfarrer schon in der 2. Klasse erklärt hatte, dass sie von all dem, was er erzähle, nichts glaube. Es war eine schwierige Zeit.

Als der Vater hört, dass der Chef seine Tochter unziemlich anfasst, darf Silvia den Lehrbetrieb wechseln. Dieses Mal hat sie Glück. Sie schliesst ihre Lehre mit einer guten Note ab. Noch während der Lehre spart sie von ihrem kleinen Lohn monatlich 100 Franken für ein Flugbillett nach Amerika. Sie will weg von Zuhause, eigenständig werden, selbst entscheiden können und Englisch lernen.

Reise nach Amerika
Im letzten Lehrjahr lernt sie ihren späteren Ehemann Victor kennen. Er ist alles andere als begeistert von Silvias Plänen. Sie bleibt hart und lässt sich nicht davon abbringen. In Kalifornien findet sie eine nette Familie. Da deren Kinder schon fast erwachsen sind, hütet Silvia vor allem das Haus, kocht, putzt, mäht den Rasen und belegt Englischstunden am College. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist die Welt für sie in Ordnung. Nach einem halben Jahr taucht Viktor auf. Gemeinsam besuchen sie in Los Angeles Bekannte aus der Schweiz. Silvia erlebt seine erste Panikattacke. Es sollte die erste von hunderten sein. Ihr Freund drängt sie, mit ihm zurück in die Schweiz zu gehen. Silvia willigt ein. „Das war mein erster grosser Fehler. Es folgten noch viele.“

Heirat und drei Kinder
Silvia ist zwanzig. Daheim sucht sich das Paar eine Wohnung. Beide arbeiten in ihren Berufen, doch bald ist Silvia schwanger. Sie heiraten und haben in wenigen Jahren drei Kinder. Viktors Panikattacken häufen sich. Eine Phobie löst die andere ab. „Es gab Zeiten, da habe ich ihm jede Nacht zur Beruhigung die Füsse massiert und Orangentee gekocht. Ich habe zugehört und Verständnis gehabt. Meine Geduld war grenzenlos. Das war mein zweiter grosser Fehler.“

Viktor ist in seinem Beruf sehr erfolgreich und angesehen. Daheim hält ihm Silvia den Rücken frei, erzieht drei kleine Kinder, macht den Haushalt, bewirtet Gäste, ist immer für alle da. Viktor hat gesellschaftliche Verpflichtungen. Meist erscheint er im letzten Moment, gerade noch rechtzeitig, um die Flasche zu entkorken. „Alles andere habe ich gemacht. Ich habe einfach alles akzeptiert. Mein Fehler.“ Es kommt immer wieder vor, dass Viktor sie aus wichtigen Sitzungen von der Toilette aus anruft: „Ich schaffe das nicht mehr.“ Silvia beruhigt ihn, fordert ihn auf, durchzuatmen und sagt, dass er es schaffe. Viktor kehrt zur Sitzung zurück und beendet sie erfolgreich.

Die Familie leidet mit
Die Kinder werden grösser, Viktors Zustand wird schlimmer. Silvia drängt ihren Mann, einen Psychiater aufzusuchen. Dafür hat Viktor kein Gehör. Auch die Familie leidet. Viktor kann keinen Lift betreten. Ausflüge auf den nahen Berg entfallen, weil Papi nicht mit der Luftseilbahn fahren kann. Die Familie verzichtet aufs Skifahren, weil Papi Angst hat. Auswärts essen ist nur möglich, wenn der Tische nahe am Ausgang liegt - wegen des Fluchtweges. Auf der Fahrt ins Tessin, müssen die Kinder im Tunnel den Papi ablenken, damit er nicht durchdreht. „Ich hätte all das ausgehalten, wäre bis ans Ende meiner Tage bei ihm geblieben, denn Aufgeben ist für mich keine Option“, erklärt Silvia.

Seitensprünge im Bordell
Nach über zwanzig Ehejahren entdeckt Silvia, dass ihr Mann fremd geht, ins Bordell. Sie glaubt, sein Geständnis sei ein Scherz. Der Kinder wegen willigt Silvia in eine Ehetherapie ein. Zuerst fühlt sie sich schuldig und sucht den Fehler bei sich. „Es war schwierig geworden zwischen mir und Victor. Die vielen Phobien, die ständigen Attacken, drei Kinder, Haus und Garten, Job, Gäste... Es war äusserst anstrengend. Ich hatte nicht mehr ständig Lust auf Sex.“ Sie müsse aufschauen können zu einem Mann. Er sei für sie jedoch immer mehr wie ein Kind gewesen.

Nach drei Jahren Ehetherapie realisiert sie, dass seine Besuche schon bald nach der Heirat begonnen hatten. „Aber das tun doch alle“, so seine Antwort. „Nicht mein Mann“, erwidert sie und reicht die Scheidung ein. Er bettelt, droht, sich umzubringen. Silvia bleibt hart. Sie hat den Respekt vor ihrem Mann verloren und muss ihn verlassen.

Ohne Arbeit und Geld
Kaum ist Silvia ausgezogen, sperrt Viktor das gemeinsame Konto. Silvia ist ohne Arbeit und ohne Geld. „Ich habe all die Jahre so gut zu ihm geschaut. Eine solche Behandlung habe ich einfach nicht verdient.“ Um zu überleben, muss sie ihre Mutter um einen Vorschuss bitten. Mit Silvia geht auch die mittlere Tochter. Die Älteste war schon beim Freund, und der Sohn bleibt wegen der nahen Schule beim Vater. „Klar, hatte ich Existenzängste, aber tief in meinem Innern war ich überzeugt: „Das kommt schon gut. Ich bin eine hoffnungslose Optimistin.“ Sie verlässt das reiche Anwesen, sucht sich eine kleine Wohnung und nimmt jede nur erdenkliche Arbeit an. Es gibt nichts, für das sie sich zu schade wäre: Sie putzt, pflegt, fährt Kinder mit Beeinträchtigung zur Schule, und mittags kocht sie für ihre drei Kinder.

Auf Jobsuche
Sie war 25 Jahre lang Hausfrau und schwer vermittelbar. Sie besucht Computerkurse, um überhaupt eine Chance zu haben. Sie hat Glück. In Zug findet sie bei einer Ölfirma eine wirklich gut bezahlte Arbeit. Eine Arbeit, die ihr liegt: Sie telefoniert mit der ganzen Welt und kann ihre Englischkenntnisse einsetzen. Sie organisiert und vermittelt Flüge und Hotels für die Traders, ist deren Ansprechsperson an der Rezeption. Silvia ist in ihrem Element. Nach einem Jahr kündigt sie. „Es waren alles junge Männer, die mit dreissig bereits Millionen verdient hatten. Sie waren eingebildet, arrogant, behandelten mich wie Luft und hatten keine Skrupel, mit ihrer Arbeit Menschen in Afrika auszubeuten. Ich ertrug es nicht länger.“

Eine gute Stelle und ein guter Chef
Wieder ist Silvia ohne Arbeit, und der Scheidungsprozess zieht sich in die Länge. Viktor ergreift jedes Mittel, um seiner Ehefrau kein Geld überlassen zu müssen. Aber sie ist eine Frau, die sich nie unterkriegen lässt. Fällt sie hin, steht sie wieder auf und macht weiter. Es sind Rückenbeschwerden, die sie zu einem Chiropraktiker führen. Vom Wartezimmer aus beobachtet sie die Frau an der Rezeption. „Das wäre eine Arbeit für mich“, denkt Silvia. Sie druckt alle Adressen von Chiropraktikern der Stadt aus dem Internet aus und telefoniert die Liste durch. Bei Nummer 24 ist sie erfolgreich. Sie darf ihre Unterlagen einschicken. Es folgt das Gespräch mit dem Chef und die Anstellung. „Ich war der glücklichste Mensch auf Erden.“ Am neuen Arbeitsort bleibt sie, bis ihr Chef die Praxis altershalber aufgibt.

Neue Liebe
Ihre neue Liebe kannte sie von früher. Branco besitzt ein Putzgeschäft und hatte jährlich einmal in Silvias Haus die Fenster geputzt. Sie offerierte ihm einen Kaffee. Im Gespräch sagte Branco: „Nicht wahr, dein Mann mag Ausländer nicht.“ Silvia war überrascht und auch nicht sicher, ob das stimmte. „Doch, doch, dein Mann ist ganz anders als du. Du magst Menschen, auch Ausländer.“

Nach der Scheidung laufen sich Silvia und Branco zufällig über den Weg. Sie erzählt von ihrer Scheidung, er bedauert. Einige Wochen später ruft er an, lädt sie zum Nachtessen ein. Ein paar Wochen später erneut und so fort. Silvia und Branco werden ein Paar. Viktor reagiert geschockt. „Hätte ich einen Arzt oder einen Advokaten gewählt, wäre alles gut gewesen. So habe ich Viktor wegen eines Kosovaren verlassen. Eine Schmach für ihn.“ Silvia muss erkennen, dass viele Freunde und Bekannte sich wegen des Ausländers, eines „Putzlappens“, von Silvia abwenden. „Das war zu viel für viele.“ Silvia nimmt das in Kauf: „Er ist ein guter Typ, feinfühlig, grosszügig, ehrlich. Ein Mann zum Hinaufschauen.“

NB. Lange fünf Jahre dauerte das Scheidungsverfahren. Der erfolgreiche und wohlhabende Ehemann musste schliesslich die Hälfte des Geldes an Silvia auszahlen, das er während der vielen Ehejahren verdient hatte. Sie hat das Geld sorgfältig angelegt, ihre Sicherheit fürs Alter. Nachdem Silvia ihren Mann verlassen hatte, suchte er einen Psychotherapeuten auf. Es geht ihm heute gut.

*Der Name wurde aus Persönlichkeitsschutz-Gründen geändert.

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