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Muttertag

Bernadette Kurmann

Meine Nachbarin ist eine aussergewöhnliche Frau. Agnes* sprüht vor Optimismus, obwohl es ihr das Leben nicht leicht gemacht hat: Ihr Mann ist früh gestorben, ihre beiden Kinder zog sie allein auf. Ihr Geld hat sie vor allem mit Putzen verdient. Stets war sie für andere da: Sie brachte Nachbarn und Bekannten mit Liebe gezogenes Gemüse, kochte Konfitüre für den Bazar, brachte Blumen ins Altersheim. Den Sohn verwöhnte sie nach Strich und Faden.

(Fortsetzung)

Nachdem Sohn Armin* von seiner Frau verlassen worden war, führte Agnes ihm den Haushalt: Sie putzte, wusch, glättete, und wenn die Grosskinder an den Wochenenden beim Vater waren, kochte sie für die drei Männer. Ich gebe zu, dass ich für mich dachte, dass sie den Sohn zu sehr verwöhne und sagte ihr das manchmal vorsichtig. Aber davon wollte sie nichts wissen.

Dann war sie verändert
Neulich schien sie verändert. Sie wirkte wie ein welkes Blatt am Herbstbaum. Ich sprach sie darauf an. Auf der Stelle fing sie an zu weinen und erzählte. Vergeblich hatte sie am Muttertag auf ein anerkennendes Zeichen von Armin gewartet. Zwei, drei Tage lang blieb sie ruhig, weil sie dachte, der Sohn melde sich. Nichts geschah. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie richtig wütend und schrieb dem Sohn per SMS: "Wenn ich dir am Muttertag kein Dankeschön wert bin, musst du von heute an deine Dinge selber erledigen." Der Sohn blieb stumm. Eine Reaktion erhielt sie von der Tochter: "Was fällt dir ein, so mit Armin umzugehen", sagte sie am Telefon. "Man schreibt keine solchen SMS, und obendrein hast du diese Arbeit aus freien Stücken erledigt. Und überhaupt: Muttertag ist ein alter Hut. Wer erwartet denn heute an diesem Tag noch Reaktionen?"

Boykott der Liebsten
Sohn und Tochter und auch die Enkelkinder (all ihr Stolz) boykottierten sie und liessen für Wochen nichts mehr von sich hören. "Ich gehe zurück, wo ich hergekommen bin. Ich habe hier nichts mehr verloren", sagte sie trotzig. Sobald sie die Arbeit niederlege, beziehe sie eine Wohnung im Altersheim ihres Geburtsorts. Wie ein verwundetes Tier wehrte sie sich gegen den Undank ihrer Liebsten und wurde zum Schatten ihrer selbst.

Von richtig und falsch
Wie immer bei solchen Streitigkeiten haben alle gleichzeitig ein bisschen recht und unrecht. SMS in Rage zu schreiben, ist problematisch. Der Muttertag hat tatsächlich an Bedeutung verloren in Zeiten, in denen Väter Betreuungsdienste übernehmen und ihre Babies am Bauch mit sich herumtragen. Und trotzdem: Wer einen so grossen Einsatz für den erwachsenen Sohn leistet, hat ab und zu ein Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung verdient. Man sollte meinen, das sei das Mindeste.

Wieder zur Stelle
Dann blühte Agnes plötzlich wieder auf und wirkte aktiv. Was war geschehen? Gestern hatte sie sieben Anrufe von ihrem Sohn auf dem Handy. Sie war beim Wandern, und dieser hatte sie den ganzen Tag lang gesucht. Ihr Enkel hatte einen schweren Töff-Unfall gehabt und lag im Spital. Als sie diese Geschichte erzählt, ist der Enkel zum Glück ausser Lebensgefahr. Natürlich fährt sie seither täglich ins Spital, um dem jungen Mann Gesellschaft zu leisten. Und als Armin erzählt, er habe Ferien gebucht just zum Zeitpunkt, wenn der Sohn aus dem Spital entlassen werde, verspricht sie, sich um den Enkel zu kümmern.

Etwas gelernt
Zurück von den Ferien, muss sich Armin am Bein operieren lassen und ist für Wochen hilflos. Natürlich springt die Mutter ein und führt wieder den Haushalt und betreut seither zwei Patienten. "Konntet ihr über euer Problem reden", fragte ich Agnes unlängst. "Nein, und entschuldigt hat er sich auch nicht", sagte sie noch immer spürbar verletzt. Aber sie habe etwas gelernt, fügte sie hinzu: "Sobald die beiden Männer wieder gesund sind, müssen sie selber zurechtkommen."

NB. Es verging ein ganzes Jahr, bis der Sohn sich endlich aufraffte und sich entschuldigte. «Ich weiss nicht, wo ich heute ohne dich wäre», sagte er.

* Namen geändert

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