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Solange ich kann, mache ich weiter

«Als Mutter gebe ich mein Kind nie auf.»
«Als Mutter gebe ich mein Kind nie auf.»

Foto und Text: Bernadette Kurmann

Katalin Dreyer-Illés wird in Ungarn geboren. Als sie acht Jahre alt ist, fliehen die Eltern beim Putsch 1956 mit ihren drei Kindern - und einem noch nichtgeborenen - in die Schweiz. Als junge Frau zieht sie mit ihrem Freund nach London und führt ein bewegtes Leben. Sie macht Bekanntschaft mit vielen Berühmtheiten. Katalin und ihr Mann kehren in die Schweiz zurück und bekommen zwei Kinder. Die Tochter entwickelt sich sehr langsam. Die Eltern realisieren ihre geistige Beeinträchtigung spät. Es folgt ein langer Weg an ihrer Seite. Dazu kommen menschliche Dramen, die der Tochter widerfahren. Die Eltern sind auch in dieser schweren Zeit bei ihr. Das Ehepaar ist inzwischen über 70, und sie bleiben dran.

(Fortsetzung)

«Vater hatte zwei Kriege erlebt, für einen dritten fehlte ihm die Kraft», erzählt Katalin Dreyer. Die Kinder werden im Kanton Aargau eingeschult und lernen rasch Deutsch. «Wir waren arm, hatten es aber gut. Mein Vater fand eine Anstellung in der Sägerei Boswil. Dass wir Flüchtlinge waren, spürte ich kaum», erinnert sich Katalin. Benachteiligungen gab es beim Übertritt in die Oberstufe. Obwohl sie eine gute Schülerin war, meldete sie der Lehrer nicht für die Sekundarschule an.

Katalin wird Dekorateurin und will nach der Lehre nichts wie weg, die Welt erkunden. Sie arbeitet in Lausanne und lernt dort ihren späteren Mann Kurt kennen. Er wollte eigentlich Schauspieler werden, doch der Vater zwang ihn zu einem «richtigen» Beruf. Nach dem KV-Abschluss wurde ihm in Lausanne eine Stelle angeboten. Weil die Schauspielerei in einer fremden Sprache schwierig war, entschied er sich fürs Tanzen. Er ist begabt und bekommt ein Stipendium für die London School of Contemporary Dance The Place. Katalin geht mit ihm nach London und arbeitet. «Jemand musste ja Geld verdienen.» Alle zwei Wochen dekoriert sie mit Kurt die Schaufenster des Italian State Tourist Office in Regent Street. Ein wirklich wunderbarer Auftrag. «Wir arbeiteten während der Nacht. Am Morgen waren wir wieder in der Schule.» Kurt im Studium, und Katalin hatte in der Kantine eine Anstellung bekommen. Sie stellt sich so geschickt an, dass sie nach der Kündigung des Chefs, in dessen Fusstapfen tritt. Die Tanzschule mit eigenem Theater war eine Welt für sich, wo Künstler ein und aus gingen. Katalin lernt spätere Berühmtheiten wie Ben Kingsley, Mia Farrow oder den Tänzer Merce Cunningham kennen. Sie geniesst diese Zeit und wird noch lange von ihr zehren.

Familiengründung in der Schweiz
Nach dem Abschluss des Studiums kehrt das Paar in die Schweiz zurück, und Kurt versucht, sich zuerst in Bern, später in Luzern eine Existenz als Tanzlehrer aufzubauen. Die ersten Jahre sind hart. Der moderne Tanz ist in der Schweiz noch nicht sehr bekannt. Nur langsam verbessert sich die Situation. Kurt und Katalin sind jetzt in einem Alter, in dem sie eine Familie gründen möchten.

Tochter Marta kommt 1975 zur Welt. Sie ist klein, keine 2 Kilo schwer. Sie entwickelt sich vorerst unauffällig. Nach 18 Monaten wird Sohn Béla geboren. Der Mutter fällt auf, dass seine Entwicklung in allem schneller vor sich geht. Marta lernt spät gehen und braucht lange, bis sie Sätze redet. «Jedes Kind ist anders», beruhigt die Hausärztin. Marta ist zu dieser Zeit schon fast vierjährig. Es gibt Tage, an denen sie sehr schlecht drauf ist. Niemand weiss warum. Diese Tage häufen sich, bis eine Abklärung unumgänglich wird. Die Diagnose lautet Morbus Perthes, eine seltene Erkrankung des Hüftkopfes mit nachfolgenden Verformungen. Marta muss starke Schmerzen gehabt haben. Für ein halbes Jahr sind Becken und Beine eingegipst, und sie muss ständig getragen und zu Therapien begleitet werden. Der Grossvater konstruiert als Wägeli ein Brett mit vier Rädern, auf dem sie sich bäuchlings in der Wohnung fortbewegen kann. Mühsam lernt sie wieder gehen.

Nicht wie andere Kinder
Die Hüfte wird wieder gesund, aber Marta bleibt schwierig und sehr klein. Sie ist eigen, ihre Vorstellungen muss die Mutter präzise umsetzen. Die Kleider sollen perfekt sitzen, die Schuhe ganz straff angezogen sein. Sonst geht Marta nicht aus dem Haus. Allmählich erfahren die Eltern, dass ihre Tochter geistig beeinträchtigt ist. «Ich spürte doch schon lange, dass etwas nicht stimmte. Ich verglich ihre Entwicklung mit derjenigen von Béla. Da lagen Welten dazwischen. Aber niemand wollte das wahrhaben.»

Marta besucht einen Kindergarten der Montessorischule. Später den Kindergarten der Steinerschule. Sie ist gerne dort und blüht auf. Sie ist ein zufriedenes, glückliches kleines Mädchen. Danach besucht sie die heilpädagogische Schule in Luzern. Sie lernt, mit dem Bus zur Schule zu gehen. «Unser Ziel für Marta war es von allem Anfang an, dafür zu sorgen, dass sie dereinst ein selbstständiges Leben führen kann.» Nicht immer ist das Leben in der Schule problemlos. Es kommt zu heftigen Konkurrenzkämpfen zwischen den Schülerinnen und Schülern. In Hagendorn lernt sie allerlei praktische Arbeiten für den Haushalt. Dann wechselt sie in ein Heim nach Bern, wo sie zwei Jahre lang herausfinden soll, welche Arbeiten sie gerne macht: Ziel ist eine Anlehre.

Volljährig und eigenständig
Marta kommt zurück nach Luzern und möchte Coiffeuse werden. Über Freunde finden die Eltern einen Platz für ein Praktikum. Bald stellt sich heraus: Marta möchte zwar Coiffeuse werden, kann aber keine Haare anfassen. Der Versuch wird abgebrochen. Die Tochter wird volljährig, und sukzessive selbstständiger. Nicht immer gelingt es ihr, sich an Abmachungen und Termine zu halten. Es ist Katalins Aufgabe, zu vermitteln, neue Termine auszuhandeln, hier zu intervenieren und dort ein Missgeschick auszubügeln.

Erste Liebe
Marta verliebt sich zum ersten Mal. Es stehen Fragen der Verhütung an, die Tochter ist fähig das selber zu regeln. Die Beziehung geht nach ein paar Monaten in die Brüche. Marta war als Kind und junge Frau liebenswürdig und fröhlich, verändert sich aber mit den Jahren zusehends. Sie ist schwierig im Umgang, bisweilen stur und aggressiv. Den Eltern gelingt es immer weniger, sie im Gleichgewicht zu halten. Sie verliebt sich zum zweiten Mal und zieht bald zum Freund. Katalin und ihrem Mann bringt es Entlastung, auch wenn sie immer wieder für kleinere «Feuerwehrübungen» einspringen müssen.

Dramatischer Einschnitt ins Leben
Eines Tages kommt es zwischen Marta und ihrem Freund zum Streit. Sie verlässt fluchtartig das Haus und läuft ziellos in der Gegend herum. Sie trifft auf einen Autofahrer, der sie aufnimmt - und vergewaltigt. Die Folgen sind dramatisch. Marta berichtet das Geschehene den Eltern. Sie ziehen den Mann vor Gericht. Ein unendlich langes Verfahren beginnt: Marta muss den Hergang beschreiben, sich immer wieder erklären und bezeugen. Ein schwieriger und demütigender Prozess für die junge Frau. Am Ende wird der Mann freigesprochen. Begründung: Sie sei freiwillig ins Auto eingestiegen, und er kenne die schweizerischen Usanzen nicht. Ein Schock.

Als ob dieses eine Erlebnis nicht genug wäre, Marta wird einige Monate später durch den Mann eines befreundeten Ehepaars erneut missbraucht. Über längere Zeit und mit massiven Bedrohungen: Er werde ihre Eltern umbringen, wenn sie irgendetwas erzähle. Die Eltern verstehen ihre Tochter nicht mehr: Sie wirkt unausgeglichen, verstört, zeigt erste Phobien, ist launisch und verunsichert. Eines Tages bricht sie zusammen und berichtet über den Vorfall.

Wenn du sterben willst, dann darfst du!“
Marta verweigert das Essen. Sie wird dünn und dünner, dann will sie sterben. Katalin begleitet ihre Tochter auf diesem schweren Weg, versucht sie zum Essen zu bewegen, macht ihr Mut, alles werde besser, motiviert sie zu Therapien. Sie möchte ihr Kind ins Leben zurückholen. Marta will nicht. Das geht so lange, bis Katalin eines Tages verzweifelt sagt: «Marta, ich liebe dich und möchte, dass du lebst und ein glückliches Leben führen kannst. Aber es ist dein Leben, wenn du sterben musst, dann begleiten wir dich.» Diese Aussage zeigt Wirkung: Marta akzeptiert eine Therapie: «Sie war 28 Kilo schwer und wollte nicht zunehmen. Die Ärztin und ich haben um Gramme gekämpft.» Auf einem langen Weg erholt sich Marta einigermassen.

Spätfolgen der Bulimie
Sie lernt einen jungen Mann kennen, der sie sehr liebt und es wirklich gut mit ihr meint. Mit ihm lebt sie seit über zehn Jahren. Als Folgen der Bulimie hat Marta diverse gesundheitliche Probleme, vor allem Magen und Darm haben gelitten. Sie joggt täglich exzessiv. Nur so wagt sie, zu essen und muss nicht befürchten, an Gewicht zuzulegen. Das Essen selbst wird zur Manie: Mal verträgt sie diese Produkte nicht, mal glaubt sie, andere nicht zu vertragen. Katalin versucht, zu besänftigen. Sie unterstützt ihre Tochter bei der Kommunikation mit Ärzten und offiziellen Stellen, wirkt verbindend, wenn ihr Unverständnis entgegen gebracht wird und kümmert sich um die Administration.

Ausblick
Alle Eltern fragen sich, wie die Zukunft ihrer Kinder aussehen wird, ob sie nun behindert sind oder nicht. Katalin und Kurt sind inzwischen über 70 Jahre alt und ihre Kinder über 40. Sie haben die Aufgabe der Elternschaft mit all ihren Freuden und Sorgen angenommen und verfolgen sie weiter. Für die Zukunft ihrer Tochter haben sie alles organisiert. Im Falle ihres Todes übernimmt Bruder Béla. Eine sogenannt «wohlverdiente Ruhe im Alter» braucht das Ehepaar Dreyer nicht, sie bleiben in Bewegung. «Du musst das annehmen. Du hast keine Wahl, ausser du verlässt die Tochter. Aber ich als Mutter gebe mein Kind nie auf. Also mache ich weiter, solange ich kann.»

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