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Unterschätzt die Hochaltrigen nicht!

Bernadette Kurmann

Ich sehe sie beim Bus, die uralte Frau. Ich schätze sie auf 90 Jahre. Ihr Oberkörper steht im 45-Grad Winkel zum Unterkörper. Sie geht ganz langsam und sorgfältig. Ich denke: «Mein Gott, welche Schmerzen muss sie ausstehen!» Sie will die Bustüre öffnen und drückt ganz vorne auf den grossen, gelben Blinkkopf. Ich zeige ihr den viel kleineren, grünen Knopf, gehe an ihr vorbei und steige an der hinteren Türe ein. Von dort beobachte ich, wie sie mühsam in den Bus einsteigt, wie sie langsam nach hinten kommt und sich in der Nähe von mir hinsetzt. Die Augen 30 Zentimeter von ihren Knien entfernt.

(Fortsetzung)

Der Bus nimmt seine Fahrt auf, fährt vier, fünf Stationen. Die alte Frau sitzt unbeweglich. Wo sie wohl hin will: Zur Tochter, zur Enkelin, einkaufen in der Stadt? Ich bewundere sie für ihren Mut, in ihrem Alter und dem offensichtlichen Gebrechen alleine zu Fuss und mit dem Bus unterwegs zu sein. Die simple Papiertasche hält sie auf den Knien und scheint zu schlafen. «Hoffentlich verpasst sie ihre Haltestelle nicht», sage ich zu mir und wäge ab, ob ich sie ansprechen soll. Ich entscheide mich dagegen, weil ich denke, dass sie ja leicht aussteigen und zurückfahren kann.

«Wow, sie kennt den Weg»
Wir erreichen die Stadt und stoppen an einer stark frequentierten Haltestelle. Aus dem Lautsprecher spricht eine Frauenstimme den Namen. Die alte Frau bleibt regungslos. Am Bahnhof muss ich aussteigen und bedauere, die alte Frau verlassen zu müssen. Noch einmal überlege ich, ob ich sie ansprechen soll. Ich lasse es sein. Just bevor ich die Türe erreiche, bewegt sie sich, steht gemächlich auf und drückt den Halteknopf. «Wow», denke ich und bin fasziniert: «Da schläft niemand, die Person weiss sehr wohl, wo sie hin will.» Die gebückte Frau steigt aus und geht ihren Weg. Eine Menschenmenge strömt an ihr vorbei. Auch ich überhole sie und nehme die Rolltreppe in den unteren Bereich des Bahnhofes.

Wohin sie wohl geht?
Ich bin in Eile, doch dann packt mich die Neugier: «Ob die Frau am Ende auch die Rolltreppe benutzt?» Ich warte zehn Sekunden, zwanzig, eine Minute. Dann erscheint sie mit ihrer weissen Papiertasche in der Hand, vornübergebeugt, als ob sie nur Augen für die Rolltreppe hätte. Problemlos überbrückt sie das Rolltreppenende und geht weiter. Wohin sie wohl gehen mag am heutigen, regnerischen Frühlingstag, sinniere ich. Auf den Zug, auf eine Schiffreise, einkaufen, zu ihrer Tochter? Wer weiss es, ich traue ihr in der Zwischenzeit alles zu.

Beschämt und lernfähig
Beschämt, dass ich die Frau derart unterschätzt habe, ziehe ich von dannen. Ich spüre aber auch Stolz über die Selbstständigkeit dieser Frau. «Unterschätzt die hochaltrigen Menschen nicht. Sie schaffen weit mehr, als es nach aussen den Anschein macht», lerne ich am heutigen Tag und gehe glücklich meiner Wege.

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