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Ein Leben auf der Achterbahn

«Je älter ich werde, desto dünnhäutiger werde ich.»
«Je älter ich werde, desto dünnhäutiger werde ich.»

Foto & Text: Bernadette Kurmann

Barbara Dobers Leben gleicht einer Fahrt auf der Achterbahn. Ein Leben mit Höhen und Tiefen, vielen Loops und bisweilen harten Landungen. Manchmal trifft alles gleichzeitig zusammen. Sie hat gekämpft, versucht Lösungen zu finden. Manchmal mit Erfolg, manchmal ohne. Barbara ist heute 61 Jahre alt. Geblieben ist ihr die dreissigjährige Tochter Larissa, die wenige Wochen nach der Geburt ihren ersten epileptischen Anfall hatte und ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Es folgten viele weitere Anfälle und zwei Hirnschläge. Larissa hat die Vernunft eines neunmonatigen Kindes, sitzt im Rollstuhl und ist auf umfassende Hilfe angewiesen. Eine erwachsene Frau, die ihre Mutter nie loslässt.

(Fortsetzung)

Barbara Dober ist in Kriens sehr behütet aufgewachsen. Ihre Schwester war 11 Jahre älter und ganz anders als die kleine Barbara. Sie war eine Rebellin und verliess das Elternhaus früh. Entsprechend war Barbara angehalten, unbedingt brav zu sein. «Das geht wie ein roter Faden durch mein Leben.» Die Familie zügelt nach Dierikon, Barbara absolviert in Rotkreuz die Lehre als medizinische Praxisassistentin MPA. Mit 18 lernt sie ihren späteren Mann an einem Fest kennen. Er war ein Bauernsohn aus Küssnacht. Neben dem Wohnhaus befand sich eine alte Trotte. Die beiden entscheiden, das alte Haus aus eigener Kraft umzubauen. Ihr Freund war Zimmermann, also prädestiniert für die Renovationsarbeiten. Beide arbeiten tagsüber, in der übrigen Zeit stecken sie all ihre Kraft und das verdiente Geld ins Haus. Die Arbeiten werden sie rund 20 Jahre lang beschäftigen: eine «never ending story». Das wunderschöne Haus gehört heute Barbaras geschiedenem Mann.

Heirat und Geburt
Barbara und ihr Mann heiraten katholisch. Sie gehört der reformierten Kirche an und akzeptiert das. Noch Jahre nach der Heirat lebt das Paar bei Barbaras Eltern, damit sie mehr Geld fürs Haus zur Verfügung haben. 1989 wird Larissa geboren, ein süsses kleines Mädchen. Als es drei Monate alt ist, hört Barbara im anderen Zimmer Geräusche. Als sie ans Bettchen tritt, macht das Baby eigenartige Bewegungen. Es zuckt am ganzen Körperchen. Notfallmässig kommt Larissa ins Spital und muss viele Untersuche über sich ergehen lassen. Die Diagnose lautet «Grand-Mal» – generalisierter epileptischer Anfall. Die Ärzte sind ratlos, probieren allerhand aus. Barbara wird kritisch: «Mir kam es vor, als wäre meine Tochter ein Versuchskaninchen.» Sie setzt sich durch, und das Kind wird ins Kinderspital Zürich verlegt. Zum ersten Mal fragt dort jemand: «Und wie geht es Ihnen?» Sie war rund um die Uhr mit der kranken Tochter beschäftigt. Ihr Mann musste arbeiten und hatte auch an den Wochenenden keine Zeit, seine Frau abzulösen. «Als Eltern eines schwerkranken Kindes gehst du durch die Hölle.» Die Schwiegereltern in der Nachbarschaft tun sich schwer mit der Behinderung: «In unserer Familie gibt es das nicht.» Mit Unterstützung von dort kann Barbara nicht rechnen. Die Hilfe kommt von den eigenen Eltern.

Ein Haus und drei Kinder
Barbara betreut die kleine Larissa und arbeitet stundenweise. «Wir waren in der Zwischenzeit in unser Haus eingezogen, aber es war noch nicht fertig. Wir brauchten das Geld.» Das Ehepaar wünscht sich weitere Kinder. Die Umgebung reagiert geschockt. «Wie könnt ihr nur!» Aber Barbara und ihr Mann sind nicht blauäugig. Sie haben sich genetisch testen lassen. Weiteren, gesunden Kindern steht nichts im Weg. Florinda und Leandro werden geboren. Beide Kinder sind gesund. Für den Schwiegervater bedeutet Leandro alles. Denn der Familie fehlte bisher der Stammhalter.

Larissa, Larissa, Larissa
Larissa entwickelt sich langsamer als andere Kinder. Mit vier Jahren macht sie die ersten Schritte. Just zu diesem Zeitpunkt erleidet sie einen Schlaganfall und auf den Tag genau 4 Jahre später einen zweiten. Seither ist die Tochter auf den Rollstuhl angewiesen. Sie braucht intensive Förderung, ein Heimeintritt ist unumgänglich. Es folgt der Kampf um IV-Unterstützung. Die Eltern wohnen im Kanton Schwyz, das geeignete Heim befindet sich im Kanton Zug. Die Eltern sollen jährlich 20 000 Franken aus der eigenen Tasche bezahlen. «Heute ist das alles geregelt, wir aber waren Vorreiter und mussten alles erkämpfen.»

Die Familie ist jetzt komplett. Larissa ist tagsüber im Heim. Mama bringt und holt sie, sorgt für die zwei anderen Kinder, arbeitet Teilzeit und versucht auch noch, der Schwägerin und Schwiegermutter gerecht zu werden. Sie haben einen gepflegten Garten und Barbara glaubt, mindestens eine ebenso perfekte Umgebung haben zu müssen. «Du überlegst nicht, du funktionierst nur.»

Kriselnde Ehe
Ein Mann der immer arbeitet, eine Frau, die an vielen Fronten kämpfen muss. «Wir hatten nie Pärlizeit.» In der Ehe beginnt es zu kriseln. Barbara versucht zu retten. Vorschläge für eine Ehetherapie oder Mediation werden zurückgewiesen: «Werde du wieder normal, dann kommt alles gut.» Sie reicht die Scheidung ein und für Barbara beginnt die schlimmste Zeit ihres Lebens. «Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch sich derart ändern kann. Wir konnten nicht miteinander reden, er explodierte ständig.» Das Gericht entscheidet, dass er das Haus verlassen soll. Er weigert sich, sie lässt es zu. «Ich bin ein Leben lang die brave Tochter.» Er tut ihr zuleide, was er kann, schliesst ihr Auto ein. Sie kann ihre Tochter nicht mehr heimholen. Er wird aggressiv, ja gewalttätig. Der Schwiegervater, ebenfalls cholerisch, bedroht sie eines Tages in Anwesenheit der Polizei. Er wird verurteilt. Sie kann erst nach 6 Jahren ausziehen, denn es folgt ein erbarmungsloser, jahrelanger Krieg ums Haus. «Profitiert haben nur die Anwälte.» In diese Zeit fallen auch die Krankheit und der Tod ihrer Mutter.

Eigene vier Wände und Einsamkeit
Barbara zieht aus und sucht sich eine neue Wohnung. Natürlich muss diese rollstuhlgängig sein und Platz bieten für ihren Sohn. Das gemeinsam umgebaute, rollstuhlgängige Haus überlässt sie ihrem Mann. Sie meidet einen Telefoneintrag, weil sie von ihrem Mann nicht gefunden werden will. Das Ärzte-Ehepaar, bei dem sie all die Jahre gearbeitet hat, stockt ihr Pensum auf zwei Tage auf. Um noch etwas Geld zu verdienen, übernimmt sie bei ihm zusätzlich Putzarbeiten. Larissa besucht sie oft oder nimmt sie übers Wochenende nach Hause. Manchmal fühlt sich Barbara müde, sich alle paar Jahre vor der IV «fast wegen jeder Schraube am Rollstuhl» zu rechtfertigen. Gewisse Dinge müssten nicht sein, zum Beispiel das Gaffen der Leute. «Je älter ich werde, umso dünnhäutiger werde ich. Ich habe keinen Partner, der einmal übernehmen könnte. Ich bekomme die ganze Ladung ab.»

Schwierigkeiten bei der Arbeit
Noch während der Scheidungsphase gehen Barbaras Arbeitgeber, das Ärztepaar, das sich stets um sie gekümmert hat, in Pension. Die Praxis übernimmt ein Arzt aus Deutschland. Die Praxis wird digitalisiert, das Team macht Überstunden um Überstunden. Gleichzeitig realisieren die Mitarbeiterinnen, dass jetzt ein neuer Wind weht. Der neue Arzt will verdienen, die Rechnungen werden höher. Ist jemand am Sterben, besucht er die Person täglich dreimal, um die Besuche in Rechnung zu stellen. Bei einem Toten wird der Herzschrittmacher entfernt, um eine Operation zu verrechnen. Der Arzt behandelt Drogenabhängige zuhauf, um Medikamente zu verkaufen. Das geht solange, bis das Gesundheitsamt ihm die Medikamentenabgabe verbietet und schliesslich die Praxis schliesst. Barbara und ihre Kolleginnen sind ohne Arbeit.

Herausforderungen mit der Tochter
In dieser Zeit wird Tochter Florinda zwanzig und hat im Internet eine Männerbekanntschaft gemacht. Sie überrascht die Mutter mit der Botschaft, sie werde heiraten. Sie sei in den Maghreb geflogen und habe sich dort verliebt. Ihr Mann komme in die Schweiz. Barbara überlegt: «Entweder ich bin strikt gegen diese Heirat, und ich verliere meine Tochter oder ich akzeptiere.» Sie akzeptiert, die Heirat findet statt. Der Schwiegersohn möchte studieren. Der Wunsch erweist sich als Unmöglichkeit. Barbara finanziert ihm Sprachstunden. Schliesslich erhält er im Geschäft seiner Frau eine einfache Arbeit. Das junge Paar lebt in einer kleinen Wohnung, hat kaum Geld und kann sich kaum etwas leisten. Auch hier unterstützt die Mutter. Bald kriselt die junge Ehe, und das Paar geht auseinander. Die Tochter braucht eine Mutter, die sie wieder aufpäppelt.

«Es ist gut, wie es ist»
Diesen Tumult über Jahre hinweg hat Barbara Dober irgendwie überlebt. Sie wirkt zufrieden. Lachend sitzt sie da und erzählt, dass sie eine neue Stelle gefunden habe, bei der sie sich sehr wohl fühle. Die zweite Tochter lebe in der Zwischenzeit in einer guten Beziehung, der Sohn habe seine zweite Lehre abgeschlossen und sei zur Freundin gezogen. Larissa ist dreissig Jahre alt geworden; ihr Gesundheitszustand ist stabil. Wie lange ihr das Leben vergönnt ist, ist ungewiss. Für ihre Krankheit gibt es keine klare Diagnose: Mikrocephalus – zu kleines Gehirn – eine Laune der Natur, die Barbaras Leben auf den Kopf gestellt hat. Soweit ist also alles in Ordnung. Barbara ist guter Dinge und hadert nicht. «Es ist gut, wie es ist.»

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