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Wer bin ich, und wer bist du?

Telsche Keese

Heutzutage schreit es aus allen Medien: «Werde du selbst!» Wie das gehen soll, wissen wir eigentlich nicht. Dabei scheint es so einfach, wenn Pestalozzi sagt, «Liebe und Beispiel» seien die Schlüssel dazu. Es heisst nichts anderes als: «Seid lieb zu Kindern und geht mit gutem Beispiel voran.» Ich weiss allerdings auch mit meinen 82 Jahren noch nicht, wer ich bin. Ich wurde in Berlin geboren und war acht Jahre alt, als der Vater tatsächlich aus dem Krieg zurückkehrte. In bester Absicht riss er sofort als Mann, der das Sagen hat, das Ruder wieder an sich.

(Fortsetzung)

Was er im Sinne Pestalozzis angestrebt hatte, wurde jäh durch den Krieg unterbrochen. Meine Mutter war während seiner Abwesenheit überfordert, für sie galt es, fünf Mäuler zu stopfen, das musste genügen. Kein Wunder, dass jedes Kind seine eigene Art entwickelte, die kargen, lieblosen und entbehrungsreichen Zeiten zu überstehen. Ich als Jüngste fiel in einen tiefen Dornröschenschlaf, bis ich endlich nach vielen Jahren erwachte und das Dornengestrüpp niedertrat: Da hatte ich tausend Fragen.

Weggefährten auf dem Weg zum ICH
Warum verweigerte mein Vater mir meine Berufswünsche? Warum scheute meine Mutter das stolze Wort «ich»? «Man» war schuld, «die anderen» waren es, nie sie. Warum nannte sie mich «gefallenes Mädchen», als ich nach einer braven 1950er-Jahre-Schülerparty mit offenen Haaren nach Hause kam und sie sah, dass ich plötzlich eine lange Hose trug? Wie war es möglich, dass ich mir ihr kleines ICH zu eigen machte, sah ich nicht, dass sie als «Frau im Laufgitter» gefangen war? Konnte ich nicht erkennen, wie kleinwüchsig ich innerlich blieb und angepasst bis zur Unkenntlichkeit, obwohl ich – nach einem Ausbruch als Schülerin von zuhause – starke, unbekannte Kräfte in mir spürte? Junge Leute von heute entgegnen mir mit einem Achselzucken: «Ach, das war so, das war die Zeit damals.» Ja, damit haben sie recht, es waren Kriegszeiten, Hungerzeiten, ich vergesse es nie.

Verdrängen oder den Geist aus der Flasche befreien
Äusserlich habe ich funktioniert, die innerliche Befindlichkeit immer bis zur Unerträglichkeit unter dem Deckel gehalten. Meinen Eltern habe ich nach damaligen Vorstellungen keine «Schande» gemacht, wenn ich mich bei meinem Zukünftigen in der Schweiz aufhielt. Es war so. 1966 habe ich in Zürich geheiratet und die Sicherheit gefunden, die ich brauchte. Die Tür hatte ich hinter mir zugeschlagen, und das setzte ungeheure Lebenslust in mir frei. Es kamen harte Jahre, aber es ging flott voran. Drei Kinder habe ich gross gezogen nach dem traditionellen Muster: Er ist der Ernährer, sie kümmert sich um Kinder und Haushalt.
Sehr spät habe ich mich aufgemacht, mich nicht mehr nur als Mutter, als Teilzeitpensenjägerin, als ausgleichende Ehefrau, als «Beauftragte für soziale Kontakte» und nicht zuletzt nur als Grossmutter zu verstehen. Ich will mich endlich als Individuum erleben, so wie ich vielleicht am Anfang meines Lebens gedacht war.

Das Eigene zu suchen macht zufrieden
Die Frage bleibt: Was ist das Eigene, Unverwechselbare in mir? Ich probiere aktiv, es herauszufinden, bin ruhelos, möchte wissen, was in mir steckt, indem ich mich in Gruppen engagiere, Gedankenaustausch suche und neugierig bleibe. Wenn ich das tue, erlebe ich mich endlich in Harmonie mit mir selbst. Ich bin dann ganz bei mir.
Ich verstehe sehr gut, warum Grosseltern so verzückt kleinen Kindern beim unbekümmerten Spielen zusehen. Dann werden wir alten Menschen nachdenklich. Wir vergleichen die heutige mit unserer vergangenen Zeit und hoffen, dass die lieben Kleinen es schaffen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, wann auch immer.

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