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​«Es wächst etwas, das uns wichtig ist»

«Wir wollten uns öffnen, etwas bewegen und voneinander profitieren.»
«Wir wollten uns öffnen, etwas bewegen und voneinander profitieren.»

Text und Foto: Bernadette Kurmann

Von einigen Jahren abgesehen, lebte Christine Jordi-Morf in Thalheim an der Thur, einem verträumten Dorf im Kanton Zürich mit rund 900 Einwohnern. Mit ihren 73 Jahren wohnen sie und ihr Mann Waio zum ersten Mal alleine in einer Wohnung. Gemeinsames Wohnen hat ihr ganzes Leben geprägt, und dafür setzt sie sich bis heute ein.

(Fortsetzung)

Aufgewachsen ist Christine Jordi in Thalheim mit Eltern, Grosseltern und sechs Geschwistern. Sie war die Älteste, und die Kinder arbeiteten auf dem elterlichen Bauernhof, sobald sie beim Heuen und „Härdöpfeln“ zupacken konnten: «Wir haben Garbenpüppchen aufgestellt, damit das Getreide trocknen konnte.» Im Herbst war Dreschen angesagt. Eine zu schwere Arbeit für Kinder. «Die Dreschmaschine wanderte von einem Bauern zum nächsten. Die Familien arbeiteten alle miteinander und halfen einander.»
Als Älteste war Christine als Kindermädchen für ihre kleineren Geschwister gefordert. Als der jüngste Bruder zur Welt kam, war sie im Teenageralter. Sie fand es gar nicht toll, dass die Familie noch grösser werden sollte. «Es war die Zeit, als das Thema Überbevölkerung breit diskutiert wurde. Natürlich sagte ich nichts.»

Eine solide Ausbildung
Das Mädchen war eine gute Schülerin. Aber, wie es sich damals für Mädchen gehörte, machte sie zuerst ein Haushaltlehrjahr. Dass Christine nach dem Haushaltslehrjahr in Stäfa in die Diplommittelschule DMS gehen durfte, dafür legte ihr Grossvater den Grundstein. In Andelfingen war man zur damaligen Zeit der Meinung, dass Mädchen nicht an die Oberschule gehörten. Dem Grossvater passte das gar nicht. Er suchte für seine Tochter in der Nachbargemeinde eine Sekundarschule. Den Sohn, also den Vater von Christine, schicke er zwei Jahre später an die gleiche Schule. «Das hat unseren Vater geprägt. Unsere Eltern lasen viel, waren kulturell interessiert und wollten, dass auch Mädchen eine höhere Schule besuchen.» Alle Geschwister von Christine machten eine solide Ausbildung als Grafikerin, Kleinkindererzieherin, Bauführer, Eisenbetonzeichner, Sozialpädagoginnen und Schreiner.

Christine wählte die Sozialpädagogik. Ihr Beruf führte sie an verschiedene Orte der Schweiz. Meist arbeitete sie mit Jugendlichen zusammen, die straffällig geworden waren oder auch mit schwererziehbaren Kindern. Sie war noch sehr jung und schon mit vielen menschlichen Problemen konfrontiert, arbeitete mit den Eltern, Ärzten und Psychologen zusammen. „Die Jugendlichen akzeptierten mich meistens gut. Sie meinten, ich ‚schnorre‘ nicht nur, sondern würde das, was ich erzähle, auch leben.“

Zurück ins Nachbarhaus
Es war im Erlenhof in der Nähe von Reinach im Kanton Basel, wo sie ihren späteren Mann Walter Jordi, Waio, kennenlernte: 1971 beendete Christine die Ausbildung, 1973 heirateten sie und 1975 kam der älteste Sohn Tobias zur Welt. Anfangs der 80er-Jahre war die Zeit der WG. Auch Christine und Waio teilten sich mit einem anderen Ehepaar und einer weiteren Person eine WG. «Für uns war das die ideale Wohnform für eine Familie.» Deshalb suchten sie sich in Basel und Umgebung etwas Grösseres. «Das Meiste war zu gross und auch zu teuer.»

Dann meldete sich ihre Mutter, das Nachbarhaus stehe zum Verkauf. Das junge Ehepaar schaute sich das Objekt an, befand den Preis für angemessen und die Substanz des Hauses für gut. Sie wollten kaufen, aber das Haus war für die kleine Familie zu gross. Was tun? Sie sprachen mit Freunden und Geschwistern. Schwester Dori, ihr Mann und der kleine Sohn wohnten damals im Luzernischen. Sie hatten Interesse. Der Schwager war Bäcker und stand wegen einer Mehlallergie vor einem Berufswechsel. 1977 zogen die zwei Schwestern mit ihren Familien ins Nachbarhaus der Eltern. Ihr Mann arbeitete vorerst noch im Kanton Basel, sie zog mit dem Kind ins neue Haus und arbeitete Teilzeit. Bald zog Waio nach und arbeitete zuerst in einem Wohnheim, später als Jugendberater in Winterthur.

Familienfrau und Gärtnerin
Der Schwager wurde Bauer auf dem elterlichen Hof der Schwestern. Die Familien bewirtschafteten zusammen einen grossen Garten. In beiden Familien wurden je noch zwei weitere Kinder geboren: zwei Söhne bei Christine, zwei Töchter bei Dori. Christine beendete ihre Berufslaufbahn. Die wachsende Familie, der grosse Garten, das Amt in der Schulpflege und viele weitere soziale Aufgaben in der Gemeinde erfüllten sie: «Ich habe den Beruf nie vermisst.»
Sie war eine grosszügige Mutter, die ihre Kinder loslassen konnte. Diese genossen das Leben im ländliche Umfeld: «Sie haben bei jedem Wetter draussen gespielt oder bauten im Wald Hütten.» Dabei entwickelten sie sich zu kreativen, zupackenden Erwachsenen: Tobias wurde Schreiner und baut heute im eigenen Atelier Holzwagen, Sämi ist Grafiker und Illustrator und Urs Steinbildhauer.

Die neue Idee
Nachdem die Kinder ausgezogen waren, verabschiedeten sich auch die Schwester und ihr Mann. Christine und Waio waren jetzt um die 60, lebten alleine im Haus und merkten: «Das geht nicht.» Das Haus war zu gross, und rundherum war Land, das bearbeitet werden musste. Was tun? Es war der älteste Sohn Tobias, der den früheren Stall in eine Schreinerwerkstatt umgewandelt hatte. Er fand, dass aus dem Garten etwas zu machen sei. In Genf, wo er eine Zusatzausbildung absolviert hatte, lernte er den «Jardin de Cocagne» (frei übersetzt: Schlaraffenland) kennen. Er dachte, dass etwas Ähnliches auch in Thalheim aufgebaut werden könnte.

Christine und Waio vergrösserten den Garten und suchten eine Abnehmerschaft von biologischem Gemüse. Sie veranstalteten Sommerfeste, suchten mit Plakaten Leute, die Gefallen am Gärtnern haben könnten… und sie fanden Nadine. Sie studierte damals Umweltwissenschaften an der Hochschule Wädenswil und kannte die Solidarlandwirtschaft. Unter ihrer Leitung entstand das «Gemüseabo». Es besteht aus einer Abonnentenschaft, die ein Jahr im voraus Gemüse des kommenden Jahres kauft, um den Betreibern finanzielle Sicherheit zu garantieren. 2009 wurde das Projekt gestartet, und es wurde schnell grösser. Der Verein wurde zur Genossenschaft. Der Erfolg war schliesslich so gross, dass der Betrieb in Thalheim zu klein wurde, und das «Gemüse-Abo» weiterziehen musste.

Die zweite und dritte Idee
Wieder bauchte es eine Idee für Christines Haus und Garten, und wieder war Sohn Tobias die treibende Kraft. Er ist der Initiator des «Vereins Holzlabor». Ganz unterschiedliche Menschen wohnen in einer Gemeinschaft und betreiben miteinander einen biologischen Gartenbau und eine Holzwerkstätte. Christine und Waio verkauften dem Verein ihr Haus im Baurecht und hinterliessen ihm das Geld als Darlehen. Aktuell leben dort rund zehn erwachsene Personen und drei Kinder: Ein Biogärtner, Landschaftsgärtner, Biologe, Gitarrenbauer, ein Schreiner, ein Videofilmer, eine Studentin usw. Die einen bewohnen ein Zimmer im Haus, andere einen alten Bauwagen im Garten, den sie in Tobias‘ Schreinerei renoviert haben. Die meisten gehen auswärts zur Arbeit. Erwünscht ist, dass sie sich am gemeinschaftlichen Leben beteiligen: im Haushalt kleinere oder grössere Arbeiten übernehmen: kochen, putzen, Essen organisieren, im grossen Garten mithelfen und an den Vereinssitzungen mitdenken. Zweimal im Jahr finden Feste statt, zu denen alle Interessierten eingeladen sind. Kürzlich wurde der «Hofladen» mit biofrischem Gemüse renoviert und das Sortiment ausgebaut. Und dank dem mehr oder weniger grossen Engagement der Einzelnen funktioniert das Zusammenleben.

Und Christine? Sie arbeitet aushilfsweise als Packerin beim «Gemüse-Abo». Sie wohnt zum ersten Mal in ihrem Leben alleine mit ihrem Mann Waio zusammen. Ihre 3,5-Zimmerwohnung gehört einer Wohngenossenschaft im Thalheim, die Christine und Waio – wen erstaunt es - mitgegründet haben. Die Gründung der Genossenschaft wäre eine weitere Geschichte, die aber den Rahmen dieser Geschichte sprengt.

Den Traum verwirklichen
Den Traum des gemeinschaftlichen Zusammenlebens haben Christine und Waio ihr Leben lang gelebt, und sie haben ihn an ihre Kinder weitergegeben. Ist sie stolz auf ihr Werk? «Schon ein bisschen», sagt sie. Das Werk ist noch nicht abgeschlossen, denn nun soll auch ihr Elternhaus dazukommen. «Den Gedanken hatten schon meine Eltern. Auch sie wollten nie verkaufen.» Was hat sie ein Leben lang am gemeinsamen Wohnen fasziniert? Christine verweist auf die Zeit der 68er-Bewegung: «Damals waren Zweierkisten verpönt. Wir wollten uns öffnen, miteinander etwas bewegen und voneinander profitieren.»

Die 73-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass gemeinschaftliches Zusammenleben zwar schön und sinnvoll ist, bisweilen aber auch anstrengend sein kann: «Dann zum Beispiel, wenn etwas schon hundertmal ‚gekätscht‘ worden ist, und jemand das Thema wieder neu ins Feld führt.» Sie verweist auf Schwierigkeiten, erzählt von Leuten, die ausgestiegen sind, von der Tatsache, dass das «Gemüse-Abo» einst beinahe am Boden lag und wieder aufgefangen werden konnte. Sie und ihr Mann machten stets weiter, weil sie die Idee wichtig fanden. Dafür setzten sie bis heute all ihre Kraft und auch einen Teil ihres Vermögens ein. Warum diese Selbstlosigkeit? «Ich würde es nicht als selbstlos bezeichnen. Es wächst ja etwas, das uns wichtig ist.»

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