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Rückblicke

Wie die Phönix aus der Asche – Alte Frauen haben Visionen

Monika Fischer

Neben dem Referat der Psychotherapeutin Ingrid Riedel zum Thema «Abschied – Aufbruch – Neubeginn im Alter» zeigten die angeregten Gruppendiskussionen: Wie gewohnt war an der Frühlingstagung der GrossmütterRevolution im Schwarzenberg die enorme Kraft der unterschiedlichen Frauen spürbar. Diese wird es brauchen, wenn das Migros-Kulturprozent nach 12 Jahren am 1. Oktober die finanzielle und organisatorische Trägerschaft an den gemeinnützigen Verein GrossmütterRevolution abgeben wird .
Mit einer szenischen Inszenierung stellte das Vorbereitungsteam am zweiten Tag die neuen Strukturen vor.

Nach der herzlichen Begrüssung waren die Frauen ausgehend von der Frage «Wofür brenne ich?» rasch in angeregte Diskussionen verwickelt. Offen sprachen sie anhand ihrer persönlichen Erfahrungen über das, was sie bewegt und beschäftigt: Sie möchten sich für ein gutes Alter für sich und andere einsetzen. Sie brennen fürs Klima, für Natur und Garten, für Wirtschaft und Care, für Grossmütterlichkeit und möchten auch in der Politik etwas bewirken. Mehrfach wurde die Sorge geäussert, wie sie das innere Feuer weiterhin nähern können, ohne auszubrennen. Auch die Bedeutung der Frauen der GrossmütterGeneration als Kultur- und Wissensträgerinnen für die nächste Generation wurde betont. Bei der Runde im Plenum verwiesen die Sprecherinnen der einzelnen Gruppen auf den spannenden Austausch und betonten: «Das findet frau sonst nirgends. Alles darf sein ohne Konkurrenzdenken und Wertung.» Angesichts der im Raum spürbaren Energie waren sich die Anwesenden einig: «Das ist ein Reichtum, der nicht verlorengehen darf. Die GrossmütterRevolution muss auch in Zukunft bestehen.»

Abschied – Aufbruch – Neubeginn
Unter diesem Thema stand das Impulsreferat der Psychotherapeutin und Buchautorin Ingrid Riedel. Da ihr die Reise mit ihren 87 Jahren nicht möglich war, war sie übers Netz auf Grossleinwand zugeschaltet. Umso stärker wirkte sie mit ihrer Präsenz und ihren Ausführungen zu den Herausforderungen und Chancen der verschiedenen Lebensphasen im Alter. Sie zeigte auf, wie sich Leben und Bedeutung der Grossmütter in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Ausgefüllt mit Haus und Kindern hätten früher viele von ihnen auch Märchen erzählt. Zum Beispiel von der Teufelsgrossmutter, die auf der Seite des Menschen steht und dank ihrer Lebenserfahrung als einzige mit dem Teufel fertig wurde. «Heute setzen sich die Grossmütter neben dem Erzählen friedensbewegt für eine frauen- und altersgerechte Welt ein», meinte sie sichtlich erfreut.

Abschied zulassen im jungen Alter
Die Referentin beschrieb die drei Lebensstufen des Alters, die nicht genau nach Lebensjahren, sondern individuell unterschiedlich verlaufen, ineinander überfliessen und in die innere Freiheit des Alters führen sollten. Im jungen aktiven Alter ab 60, 65 stehe der Abschied vom vertrauten Beruf und der damit verbundenen Rolle, die ein bestimmtes Selbstbild, und Selbstwertgefühl vermittelte, im Zentrum. Oft sei dies verbunden mit einem Abschied von Menschen, denen man etwas geben konnte, was als Verlust empfunden werde. Um ein langes Nachtrauern zu verhindern, sei es wichtig, diesen Verlust zuzulassen. Möglich sei dies durch einen Lebensrückblick beim Reden, Erzählen oder in Text und Bildern. Doch sollte es kein zwanghaftes repetitives Erinnern sei. Wichtig sei ein positiver, integrativer Erzählstil. Bei der Konzentration auf Gelungenes, Befreiendes, würden Glückshormone ausgelöst, was wirksam sei für eine Neuorientierung. Hilfreich sei dabei die Methode von SOK: S stehe für Selektion, indem man anschaut, was man nach wie vor gut kann, dies optimiert und damit das, was man weniger gut beherrscht, kompensieren kann. Neue Zugänge könnten auch durch Imaginieren, Vorstellungen oder Träume gefunden werden.

Schandmaulkompetenz im Alter
Während der Berufszeit gewinnen wir äussere Freiheit. Mit dem Alter werde die Frage nach der inneren Freiheit immer dringlicher. Dies führe zu den Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Es könne zum Tun ohne Gegenleistung führen, weil es ein Herzensanliegen ist. Es sei wichtig, sich nicht mehr instrumentalisieren und für einen Zweck einspannen zu lassen. Es gelte auch, den Mut aufzubringen, den unsäglichen Zuständen der Welt zu widersprechen. Ingrid Riedel sprach von der Schandmaulkompetenz im Alter: «Wir haben nichts mehr zu verlieren, können es wagen, das anzusprechen, was für uns nicht stimmt, was uns stört und den Protest wagen.» Wenn z.B. eine Demo durch eine Rollatorenreihe angeführt werde, könne dies nicht nur die Polizei verunsichern.

Das ganze Leben annehmen
Wenn das Leben im mittleren Alter ab ca. 75, 80 langsamer werde, stehe die Frage im Zentrum, wo frau noch aktiv sein wolle und könne. Im hohen Alter ab ca. 85, 90 gehe es darum, Freiraum für die innere Freiheit im Alter zu schaffen: Nicht mehr die Nützlichkeit, sondern das Leben als solches als kostbar und lebenswert zu sehen. Zu leben um des Lebens willen, sich selber zu leben. «Ich lebe darum, dass ich lebe», meinte die Referentin. Das heisse im Moment zu sein, ohne Beifall zu brauchen. Das schliesse nicht aus, dass frau sich auch an Aktionen beteilige, wenn ihr diese wichtig sind.
Oder einfach sein und zu meditieren: Das Egozentrische zu lassen und sich ohne Ansprüche dem grossen Sein hinzugeben. Höchste Erfüllung darin zu finden, was das Leben von einem wolle.
Dabei gehe es auch darum, die Einschränkungen des Alters anzunehmen: Das ganze Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten zu wollen bis hin zum Tod und so gelassen zu einer Haltung innerer Freiheit und Würde zu finden bis hin zum letzten Loslassen als Akt der Hingabe.

Das Alter als Zeit der Freundschaft
Gemäss Ingrid Riedel gibt es keine Altersgruppe, die so gut mit Licht und Schatten umgehen kann und die sich so gut eignet, in schwierigen Verhandlungen Frieden zu stiften. «Weil wir die grösste Lebenserfahrung haben. Das ist unsere Würde, ist unser Stolz.»
Das Leben werde im Alter immer kostbarer, weil es beschränkt ist. Am schwersten sei der Tod eines geliebten Menschen. «Es ist, als stürbe man selbst nach einem Leben im geteilten Selbst.» Nur in der Erinnerungsarbeit könne man zu einem neuen Selbst werden. Jede Begegnung mit anderen Menschen tue gut. Dies könne im Alter zu neuen, reifen Freundschaften führen.
Das ganze Leben zu leben und somit auch Ja sagen zu Leid, Schmerzen, Krankheiten könne zu einer Gelassenheit führen, die auch im gemeinsamen Leiden liegt und zu einem Gefühl von Solidarität mit andern, denen es ähnlich geht. Beim gemeinsamen Erzählen würden Glückshormone ausgeschüttet, die das Leben im Alter bereichern.
Das ganze Referat als PDF

Loslassen, Verändern und neue Chancen
Nach dem eindrücklichen Referat und einigen direkten Fragen an Ingrid Riedel vertieften die Frauen das Gehörte in Erzählrunden ausgehend von eigenen Erfahrungen. Sie berichteten davon, wie nach Trauerarbeit Neues entstehen konnte, wie sie nach einer Krise wieder aufstehen konnten. Sie erzählten von der Suche nach einer Balance zwischen Festhalten und Loslassen. Von der Kraft, nachdem sie die patriarchalen Strukturen durchbrechen konnten. Von der Bedeutung des Glaubens an die eigenen Talente, aber auch von der Erschöpfung, die sich bei der Bewältigung einer Krise ergeben kann. Freundschaften, Rückzug, Engagement, Weiterbildung und professionelle Hilfe haben geholfen, weiterzugehen und neue Wege zu finden.

«Grossmütter sind Frauen, die andere durchs Dunkel führen und Visionen haben», meinte die Kabarettistin Bettina Dieterle, bei deren humoristischen Zusammenfassung alle herzhaft lachen konnten.

Nach Dankesworten an Maru Stocker und Francoise Gysi-Klaus, die den ersten Teil der Tagung mit ihr organisiert hatten und der Vorbereitungsgruppe, die den zweiten Tag übernommen haben, verabschiedete sich Anette Stade von ihrer letzten Frühlingstagung. Mit einem Grossmutterschal, der Aufnahme in den grossen Kreis der Frauen der GrossmütterGeneration und einem langen Applaus dankten ihr die Anwesenden.

Visionen für eine neue GrossmütterRevolution
Am zweiten Tag stellten die vier Frauen der Vorbereitungsgruppe mit einer stummen szenischen Inszenierung den Übergang von der aktuellen zur neuen GrossmütterRevolution dar. Rosmarie Brunner trug verschiedene blühende Pflanzen auf einem silbernen Tablett herein – Symbol für das Migros Kulturprozent, das die GmR 12 Jahre unterstützt hatte. Da es nun wegfällt stellt sie die Pflanzen auf den Bistrotisch. Verlieren die Pflanzen ab dem 1. Oktober ihren festen Boden? Keineswegs! Schwungvoll wurde ein handgeflochtener Korb geholt als Symbol dafür, dass die interessierten und engagierten Frauen ab Herbst selber einen Korb als Grundlage für den Weiterbestand der GrossmütterRevolution flechten müssen. Gemeinsam mit Veronika Bosshard, Maya Eigenmann und Ursula Popp versorgte Rosmarie Brunner die Pflanzen im Korb.

Die Ära der engagierten Grossmütter
«Wenn es die GmR noch nicht gäbe, müsste man sie sofort erfinden» meinte sie unter anderem zu ihrer Motivation, an den neuen Strukturen mitzuarbeiten. Zur Bestätigung las Maya Eigenmann aus dem Buch von Isabel Allende «Was wir Frauen wollen» den Abschnitt: «Das ist die Ära der couragierten Grossmütter, und wir sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Wir alten Frauen haben viel erlebt, wir haben nichts zu verlieren und sind deshalb nur schwer einzuschüchtern. Wir können Klartext reden, weil wir ausser Konkurrenz laufen, nicht gefallen oder beliebt sein wollen; wir kennen den unermesslichen Wert von Freundschaft und Zusammenarbeit. Der Zustand der Menschheit und des Planeten bereitet uns Sorge. Jetzt müssen wir uns nur noch einig werden, um die Welt gehörig aufzurütteln.»

Auf dem Bestehenden aufbauen
Ausgehend vom Korb in der Mitte des Raumes stellte die Vorbereitungsgruppe die gemeinsam mit Elisabeth Bauer in den letzten Monaten entwickelten neuen Strukturen vor. Auf der Grundlage des bisherigen, leicht angepassten Manifests möchten sie Altes mit Neuem verbinden und die Organisation mit VEREINten Kräften weiterführen: erfahren, engagiert, energisch. Der Boden soll künftig der gemeinnützige steuerbefreite Verein sein; das von verschiedenen Frauen mit unterschiedlichem Lebenshintergründen und bewusstem Frauenblick geflochtene Netzwerk den Korb bilden. Matronat, RegioForen und thematische Arbeitsgruppen sowie die überregionalen, verbindenden Leuchtturmprojekte (Frühlingstagung und GrossmütterForum) sollen weiterhin bestehen. Neu ist die Mitgliederinnenversammlung das oberste Organ. Die strategische Leitung liegt beim Vorstand, der von der Geschäftsstelle operativ unterstützt wird. Für die inhaltliche Leitung sind Matronat, RegioForen und Arbeitsgruppen zuständig. Neue Finanzierungsstrukturen sollen die Arbeit auch weiterhin gewährleisten. Zur Unterstützung in der Übergangsphase werden Fachfrauen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Finanzen, Fundraising gesucht. Ein kräftiger Applaus dankte den vier Frauen für ihre zukunftsweisende Arbeit.

Die Kraft der alten Frauen
In den zwei von Fiona Dürler geleiteten Open Space-Runden kam eine Fülle von Themen zusammen, mit denen sich die künftigen Mitglieder der GrossmütterRevolution befassen möchten. Sie reichten von der Gründung einer Lesegruppe über die Auseinandersetzung mit verschiedenen Wohnformen, der Digitalisierung, der Care-Thematik, mit Körper/Gesundheit, Sinn und Chance des langen Lebens über die Gründung des RegioForums Zentralschweiz bis hin zur Teilnahme am Frauenstreik vom 14. Juni und der Entwicklung von Strategien, wie alte Frauen in der Öffentlichkeit vermehrt sichtbar und hörbar werden. Die Vorbereitungsgruppe wird die auf dem Flipchart festgehaltenen Ideen und Vorschläge sichten und in Zusammenarbeit mit dem Matronat weiterentwickeln. «Die Tagung hat mich genährt und gestärkt», meinte eine der Teilnehmerinnen beim Abschied.» Bestimmt ist es den meisten beteiligten Frauen ähnlich ergangen: Ein Zeichen für die enorme Kraft beim Austausch von Visionen der alten Frauen, die sich weiterhin gegenseitig stärken und die Gesellschaft aktiv mitgestalten möchten.
Monika Fischer

Impulse für Grossmütter
Impulsreferat von Dr. Ingrid Riedel
als PDF

Handout der Vorbereitungsgruppe
Entwicklung von neuen Strukturen
als PDF

Tagungsbericht von Monika Fischer
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Bildergalerie

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